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David Peace wurde am 9. 4. 1967 im nordenglischen Ossett geboren und wuchs in West Yorkshire auf, studierte in Wakefield und Manchester, unterrichtete Englisch in Istanbul und zog Mitte der 1990er nach Tokio, wo er seine spätere Frau kennenlernte. Seitdem lebt Peace abwechselnd in Großbritannien und in Japan, was sich auch in den Settings seiner Romane widerspiegelt. Seit 2011 unterrichtet Peace auch am Institut für zeitgenössische Literatur der Universität Tokio.
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David Peaces Werk kann in zwei Blöcke unterteilt werden, welche sich am geografischen Kontext der Romane festmachen: Sieben seiner bislang zehn Werke spielen in Nordengland, also in der Gegend, in der Peace aufwuchs, während die übrigen drei Romane in Japan angesiedelt sind, dem Land, das der Autor zu seiner Wahlheimat erkoren hat. Trotz dieser offensichtlichen Zweiteilung des Gesamtwerks ziehen sich Muster und Motive durch alle zehn Romane, die sämtliche Werke verbinden.
Eines der zentralen Elemente in Peaces Werk ist das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Alle Romane spielen in vergangenen Dekaden und thematisieren reale historische Ereignisse und Personen, egal ob es um Kriminalfälle, Politik oder Fußball geht. Allerdings unterminieren seine Romane die offiziell akzeptierten Versionen der Geschichtsschreibung und ergänzen diese um „okkulte“ oder „obskure“ Geschichten (in „GB84“ beschreibt Peace seine Strategie als das Verfassen einer „occult history“). Dabei bietet Peace keine komplett kontrafaktischen Ansätze an, sondern weitere mögliche Versionen der Geschichte(n). Zwangsläufig nähert sich sein Werk dadurch dem komplexen Feld der Verschwörungstheorien an, da die alternativen Versionen von Geschichte den hegemonialen Status der dominanten offiziellen Geschichten anzweifeln und untergraben. Aufgrund der Tatsache, dass Peaces Romane somit eigentlich abgehakt scheinende Fälle wieder ausgraben und ihren Wahrheitsanspruch infrage stellen, entwickelt sich ein stetiger Dialog zwischen dem Zeitalter der Handlungen und dem Zeitalter der Romanproduktion, sodass sich, laut Katy Shaw, die Vergangenheit bei Peace durch eine stetige Halb-Präsenz manifestiert.
Die Sprache und der Stil, welche Peace hierzu einsetzt, werden von der Kritik oftmals mit dem kalifornischen Kriminalautor
Als drittes prägendes Element positioniert Peace seine Texte in einem weitgefassten intertextuellen Raum mit unzähligen Verweisen auf verschiedenste Prätexte. Dies reicht von Epigrafen hin zu Kapitelüberschriften, Anleihen an Themen oder Stil anderer Werke oder die tatsächliche Erwähnung bestimmter Autoren („No Milton. No Blake. No Orwell.“, Damned Utd, S.343). Die Palette zitierter Texte beinhaltet insbesondere die obengenannten
Jene als „Red Riding Quartet“ (eine Anspielung sowohl auf das Märchen von Rotkäppchen und die ermordeten in Rot gekleideten Mädchen in zweien der Romane, als auch auf das West Riding of Yorkshire genannte Verwaltungsgebiet, in dem die blutige Handlung der vier Romane angesiedelt ist) betitelte Reihe von vier in Dreijahresabständen angeordneten Werken („1974“, „1977“, „1980“, „1983“) sind David Peaces früheste veröffentlichte Erzählungen.
Protagonist in „1974“ (1999), dem ersten Teil des Quartetts, ist Eddie Dunford, ein junger Journalist, der sich gerade einen Namen als Kriminalreporter verdienen will. Dunford, als autodiegetischer Erzähler, scheint getrieben vom Einfluss zweier Vaterfiguren: dem leiblichen Vater, der am ersten Tag der Handlung beigesetzt wird, und dem älteren Kriminalreporter Jack Whitehead, welchen Dunford als großen Rivalen sieht. Whiteheads Reputation vergessen zu machen, ist die große Motivation der existentialistischen Selbstfindung des Protagonisten. Der Roman folgt zunächst den Konventionen eines klassischen Kriminalromans aus der hard-boiled tradition.
„1977“ (2000) setzt drei Jahre später mit einem anderen Fall an: einer Serie an Prostituiertenmorden, die dem sogenannten Yorkshire Ripper zu Last gelegt wurden (der Fernfahrer Peter Sutcliffe gestand später 13 Morde und wurde im Jahr 1981 zu lebenslanger Haft verurteilt). Das Setting ist weiterhin West Yorkshire und die handelnden Personen tauchten vielfach bereits im Vorgängerroman auf. „1977“ wird in alternierenden Kapiteln aus der Sichtweise zweier Protagonisten erzählt: der des halbwegs anständigen Polizisten Bob Fraser sowie der des Journalisten Jack Whitehead. Jedes Kapitel wird eingeführt mit einem kurzen Transkript einer fiktiven Radioshow, in der sich ein Anrufer mit dem Moderator John Shark über diverse Nachrichten des Jahres echauffiert, z.B. der Kosten des Queenʼs Jubilee oder steigender Kriminalitätsstatistiken. Es entsteht der Eindruck, als sei der Anrufer jedes Mal ein- und dieselbe Person, und da John Shark ihn wiederholt mit „Bob“ anspricht, wird zumindest suggeriert, dass dies eine anonyme Version DI Frasers ist.
Der zweite Erzählstrang des Romans fokalisiert Jack Whitehead, den Kriminalreporter, der im ersten Teil der Serie von Eddie Dunford als großer Widersacher und Übervater charakterisiert wurde. Der Whitehead dieses zweiten Teils ist von Dämonen der Vergangenheit getrieben, die ihn an einen missglückten Akt des Exorzismus erinnern, bei welchem seine Ex-Frau starb.
Drei Jahre später, in „1980“ (2001), wird die Geschichte aus der Sicht des Polizeibeamten Peter Hunter aus Manchester weitererzählt. Hunter tauchte im Band zuvor gelegentlich auf, da er als interner Ermittler Untersuchungen gegen einige Beamte aus Leeds führte.
„1980“ treibt die Verzweiflung und Orientierungslosigkeit des Quartetts auf die Spitze, denn im Bürokraten Peter Hunter findet sich, trotz manch abstoßender Seiten, ein Ankerpunkt für die Hoffnung auf einen Sieg der Moral und der Gerechtigkeit. Dass dieser, auch geografisch, ein Außenseiter bleibt und keinen Weg findet, die verantwortlichen Personen zur Rechenschaft zu ziehen, unterstreicht das Bild von Yorkshire als einer hermetisch abgeriegelten Gesellschaft, die Fremden mit Ablehnung und Gewalt begegnet und deren Mächtige immer einen Schritt weiter sind als ihre Verfolger.
Der Beginn des letzten Teils des Quartetts zeigt Parallelen zum ersten Band, denn ein junges Mädchen ist spurlos verschwunden. In „1983“ (2002) wechseln sich drei Erzählstränge ab: der leitende Polizeibeamte Maurice Jobson, der Rechtsanwalt John Piggott, und der von Anfang an durch die Handlung geisternde Strichjunge BJ Anderton.
Was allen Protagonisten im „Red Riding Quartet“ gemein ist, ist die Desillusion und Orientierungslosigkeit angesichts einer korrupten und Hierarchien instrumentalisierenden Welt. Die Kriminalfälle gestalten sich als Labyrinthe, in denen keine narrativen red herrings als falsche Fährten ausgelegt werden, die sich zum Ende hin in Wohlgefallen auflösen und die Wiederherstellung der alten Ordnung garantieren würden. Stattdessen bringt jeder neue Hinweis mehr Verwirrung, und trotz des omnipräsenten Gefühls, dass alles irgendwie mit allem zusammenhängt und eine immense Verschwörung des Rätsels Lösung wäre, verschwimmt das Bild des großen Ganzen immer mehr. Auch die korrupten Polizeibehörden, samt ihren Verstrickungen mit Politik und Wirtschaft, bieten keine konkrete Angriffsfläche, verwehren den Protagonisten den einen Bösewicht, der alle Strippen in der Hand hielte. Stattdessen wird Verantwortung und Verwirrung delegiert und es entsteht das Bild einer kaum zu fassenden Hydra, die einfach nur Ausdruck grundlegender struktureller Gewalt ist. Verzweifelt versuchen Peaces Protagonisten Orientierung in ihren eigenen Praktiken zu finden, in Ritualen oder in den mantraartig wiederholten Phrasen, die den Stil der Romane signifikant prägen. Ein subtiles und dennoch zentrales Motiv ist hierbei das der Uhr. Eddie Dunford schaut in „1974“ ständig auf die Armbanduhr seines verstorbenen Vaters, die ihm zum einen Orientierung innerhalb zeitlicher Strukturen bieten soll (Peaces Texte sind durchzogen von genauen Datums- oder Zeitangaben, welche unterschiedliche Kapitel auf einer temporalen Achse verankern), aber zum anderen auch wie ein moralischer Kompass, als Rückversicherung seiner detektivisch-moralischen Überlegenheit, wirkt. Bezeichnenderweise ist der Verlust dieser Uhr während der Misshandlungen im Polizeigewahrsam ein klarer Indikator für Eddies endgültigen Abstieg. Bob Fraser in „1977“ bemerkt ebenfalls in der Untersuchungszelle, während ihm der Mord an Janice Ryan angehängt werden soll, dass seine Uhr auf einmal fehlt und ihm damit ein weiteres Stück Boden unter den Füßen weggezogen wird; ebenso bleibt Jack Whiteheads Uhr wiederholt stehen, als sich die Situation um seine Geliebte Ka Su Peng zuspitzt. Kurz nachdem Peter Hunter in „1980“ die alte Uhr seines Vaters ablegt und das Weihnachtsgeschenk seiner Frau, eine Digitaluhr, anlegt, brennt sein Haus nieder und markiert so seinen Weg in den persönlichen Ruin. Und auch später greift David Peace dieses Motiv wieder auf, als Brian Clough in „Damned United“ direkt im ersten Training mit Leeds United seine Uhr verliert und diese (sprich: sein moralisches Wertesystem) während beinahe der gesamten 44 Tage in Leeds wiederzufinden sucht.
Mit Ausnahme des fiktionalen Bill Shankly, dessen Figur von einem Rezensenten als „zu engelsgleich“ beschrieben wurde, sind Peaces zentrale Charaktere keine Menschen, die zur sofortigen Identifikation einladen: Sie sind getrieben und besessen, in Zwängen und Abhängigkeiten gefangen und tun oftmals verwerfliche Dinge. Dennoch ist ihnen gemein, dass ihr moralischer Kompass insofern intakt ist, als dass sie Machtstrukturen hinterfragen und auf der Suche nach Wahrheit und Schönheit, in welcher Form auch immer, sind: Das kann im Aufklären von Verschwörungen, in Spielzügen auf dem Fußballfeld oder in Prosa und Poesie geschehen. Auch wenn diese Charaktere Gewalt anwenden, ihre Ehepartnerinnen betrügen und ihre Familien alleinlassen, dem Alkohol oder Medikamenten verfallen sind – sie handeln immer noch moralischer als die Personen im Zentrum der Macht, und sie erkennen ihre eigenen Unzulänglichkeiten, auch wenn der Kampf gegen diese meist vergeblich ist.
Ein weiteres Merkmal, welches die Serialität des „Red Riding Quartet“ hervorruft, ist die Kontinuität der Paranoia und des Unbehagens. Zwar bricht die Reihe mit vielen Konventionen des Kriminalromans, und Lesende vermissen angesichts der unzähligen Widersprüche und offenen Fragen die Befriedigung einer restaurierten Ordnung. Aber auch wenn die diffusen Autoritäten, welche durch ihre Korruption und Manipulation die Aufdeckung einer befriedigenden Wahrheit und rechtstaatliche Verfolgung der Verbrechen stets verhindern, genügend Macht haben, um die Protagonisten der Reihe bis in den Wahnsinn oder den Tod zu frustrieren, so lässt sich doch nicht alles unter Verschluss halten. In jedem Band der Reihe tauchen Hinweise, Zeugen oder Verdachtsmomente auf, welche die Handlung der Vorgängerromane wieder aufreißen und deren Unabgeschlossenheit in den Vordergrund rücken. Dadurch, und vor allem durch den Umstand, dass auch der abschließende Roman „1983“ keine umfassende Lösung aller Rätsel anbietet, wird die Paranoia über die Jahre weitergetragen und auch die bereits verstorbenen Ermittler bevölkern als Geister den Fortgang der Handlung. Dies vermag jedoch kein Gefühl der Gerechtigkeit zu vermitteln, da die Hoffnung, eine bereits verjährte Ungerechtigkeit möge nun doch noch gerächt werden, stets durch weitere Desillusionen delegiert wird. Korruption und Polizeiwillkür sind in Peaces Reihe zwar ortsgebunden (durch die Fokussierung auf Leeds und West Yorkshire), aber keineswegs zeitlich begrenzt, auch wenn die narrative Spanne von neun Jahren dies auf den ersten Blick suggeriert.
Das nächste Buch, „GB84“ (2004), ist der meistrezipierte, weil politisch relevanteste, von Peaces Romanen. Der außerhalb Großbritanniens in der kulturellen Erinnerung nicht sonderlich präsente Bergarbeiterstreik von 1984/85, wird – gerade in den damals besonders betroffenen Regionen – immer noch als einschneidendes Ereignis gesehen, welches den politischen Diskurs bis heute prägt. Der fast zwölfmonatige Streik, aus dem die Regierung um Margaret Thatcher als gefühlter Sieger hervorging, wird allgemein als das Ende der traditionell starken und einflussreichen Gewerkschaften im Vereinigten Königreich gesehen. Gleichsam legitimierte der Ausgang des Streiks scheinbar die neoliberal geprägte Politik der Privatisierungen und die Aushöhlung ganzer Industriezweige; in der Folge verfestigte sich das soziale Gefälle zwischen dem vornehmlich industriellen Norden und dem südlichen Teil des Landes um die Hauptstadt London. Als Margaret Thatcher im Jahr 2013 nach langer Krankheit starb, gingen Bilder von volksfestähnlichen Paraden in einigen nordenglischen Gemeinden um die Welt. Lösten diese Eindrücke, immerhin mehr als zwanzig Jahre nachdem Thatcher sich aus der Politik verabschiedet hatte, im Rest der Welt Befremden aus, zeigten sie doch vor allem, wie stark in Teilen des Landes soziale Ungleichheit immer noch als Vermächtnis von Thatchers Regierungszeit interpretiert wird.
„GB84“ beruht zwar im Kern auf historischen Fakten und Gegebenheiten, erhebt aber weder Margaret Thatcher, noch den mächtigen Gewerkschaftsführer Arthur Scargill in den Rang handelnder Personen. Damit bildet der Roman automatisch ein Gegengewicht zur dominanten Auffassung, dass der Disput insbesondere auch in dem Personenkult um Thatcher und Scargill begründet sei. Zwar tauchen beide in einzelnen Szenen auf, aber in diesen Momenten wird über die beiden Anführer gesprochen, die somit als kaum fassbare Einheit durch den Hintergrund der Handlung geistern. „GB84“ ist in fünf Teile und 53 Kapitel für die einzelnen Wochen des Streiks gegliedert. Getrennt werden diese Kapitel von jeweils einer Seite, die in Zeitungskolumnenoptik fortlaufende Tagebucheinträge zweier streikender Bergarbeiter präsentiert. Die 53 Hauptkapitel alternieren zwischen kurzen Abschnitten, die jeweils eine der vier zentralen Figuren des Buches fokalisieren.
Die Romanfiguren tragen allesamt fiktionale Namen (auch aus rechtlichen Gründen), selbst wenn die realen Charaktere, auf denen sie basieren, meist leicht abzuleiten sind: Stephen Sweet ist an den politischen Strippenzieher David Hart angelehnt, Terry Winters an den Gewerkschaftsfunktionär David Windsor, und dem ominösen Überfall, der aus dem Ruder läuft und im Mord an einer alten Regierungsgegnerin mündet, liegt zweifelsfrei die Tötung der Atomkraftkritikerin Hilda Murrell im Jahre 1984 zugrunde. Die Polyphonie dieses vielschichtigen Buches lenkt den Fokus der Geschichtsschreibung also weg von den Repräsentanten des Streiks, hin zu den Personen, die im Tagesgeschäft durch ihre Entscheidungen, ihre Fehleinschätzungen und ihre Netzwerke den Fortgang des Konflikts entscheidend beeinflussten. Das nährt logischerweise die ohnehin längst bekannten Verschwörungstheorien, dass beispielsweise die Armee in die Niederschlagung von Demonstrationen involviert war oder auch, dass die zentrale „Schlacht von Orgreave“ von Seiten der Polizei orchestriert und von den regierungsnahen Medien gezielt falsch repräsentiert wurde. Gleichzeitig steht jedoch auch die NUM in keinem guten Licht da und wird im Roman als bürokratische Organisation dargestellt, in der es einem farblosen Funktionär wie Winters leichtgemacht wird, nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch sich selbst konsequent mit einer erdachten Lebensgeschichte zu belügen.
Auch wenn diese Passagen anfangs vielleicht oberflächlich überlesen werden, so liegt der Schlüssel zum Verständnis des Werks in dem jedem Kapitel vorgeschalteten und chronologisch fortlaufenden Tagebucheinträgen der beiden Bergarbeiter Martin Daly und Peter Cox. Dies sind die eigentlichen Hauptdarsteller in der historischen Handlung, zwei von Tausenden Bergarbeitern, die der Streik wirtschaftlich, aber auch körperlich und emotional an den Abgrund brachte. Durch die stete Wiederkehr dieser beiden Narrativen setzt der Roman eine Art Stolperstein, der die viel spannendere Handlung der Kapitel unterbricht und dafür die Schicksale, die am Ende der politischen Kette stehen, in den Fokus rückt. Bezeichnenderweise setzt der Bergarbeiter Peter auch den Schlusspunkt des Romans, in welchem eine apokalyptische Albtraumvision von Thatcher als siegreicher Chimäre auf einem Hügel aus besiegten Bergarbeitern das neue England ausruft.
Diese an Miltons „Paradise Lost“ gemahnende Passage ist jedoch nur eine von unzähligen intertextuellen Referenzen und Anspielungen. Schon der Titel des Romans ist eine Referenz an George Orwells Dystopie „1984“ (1949), das Epigraf, mit „The Argument“ betitelt, ist der erste Hinweis auf Milton (und wird im Übrigen selbst-referenziell auch für die folgenden Romane „Damned United“ als „The Argument II“ und „Red or Dead“ als „The Argument III“ weitergeführt), und wiederholt finden sich im Text Zeilen aus Gedichten von William Blake. Die Referenzen an dystopische und apokalyptische Texte sind nicht ohne Grund gewählt, stecken sie somit doch einen Rahmen ab, innerhalb dessen sich auch Peaces Version des Streiks positioniert. Gleichzeitig verleihen diese Verweise der Geschichte historische Kontinuität und Tiefe. Andererseits ist dieser Roman innerhalb von Peaces Gesamtwerk, welches, mit Ausnahme der japanischen Texte, stets in irgendeiner Form Margaret Thatcher als Kontrapunkt und zentrale Figur der letzten fünfzig Jahre setzt, die Referenz, auf die in gewisser Weise die vier Teile des „Red Riding Quartet“, aber auch die später verfassten Fußballromane, hinführen.
Die historische Bedeutung Margaret Thatchers ist in „GB84“ augenfällig, da die Handlung grundlegend vom Konflikt zwischen der Regierung Thatcher und den Gewerkschaften angetrieben wird. Aber auch in allen anderen ‚englischen‘ Romanen ist Thatcher ein Dreh- und Angelpunkt, durch deren Politik die gravierenden Gräben innerhalb der Gesellschaft, welche für Peaces Romanwerk so charakteristisch sind, erst zum Tragen kamen. Da die Handlungen der Texte oftmals vor 1979 (dem Jahr, in dem Thatcher erstmals zur Premierministerin gewählt wurde) einsetzen, wird deutlich, dass die Grundzüge dieser Spaltungen immer schon angelegt sind, durch Thatchers Bruch mit beispielsweise dem Nachkriegskonsensus eines unantastbaren Wohlfahrtsstaats aber erst richtig aufreißen. So sind dann eindeutige Linien erkennbar zwischen der korrumpierten Polizei in den Teilen des Quartetts und den manipulierten Truppen in „GB84“. „Damned United“ erwähnt im Postskript, dass Brian Clough Jahre später mit Nottingham Forest den Europapokal gewinnen wird, im gleichen Jahr aber auch Margaret Thatcher die erste Parlamentswahl gewinnen wird: ein Kommentar, der mit der Handlung des Fußballromans im Jahr 1974 nichts zu tun hat, aber in der Gesamtschau eine klare politische Positionierung des Texts unterstreicht. Und in „Red Or Dead“ schaut Bill Shankly am Wahlabend 1979 auf die verlassene Straße und hat böse Vorahnungen, was in der Zukunft auf die Menschen in Liverpool zukommen wird. Der ehemalige Labour-Premier Harold Wilson erhält im zweiten Teil des Romans eine Art Gastauftritt und wird explizit als Gegenpol zu Thatcher konstruiert, in deren Unverständnis für das Fußballspiel sich eine generell ungenügende Sorge für die Menschen spiegelt. Wenn Peaces Romane aus dem 21. Jahrhundert in ihrer Behandlung der 1970er und 1980er Jahre nun als Auseinandersetzung mit der Thatcher-Ära und den aus ihrer Politik resultierenden Rissen innerhalb der englischen Gesellschaft gelten, so zeigen sie vor allem auch, wie all diese Motive bis in die heutige Zeit hineinreichen – auch hinter Thatcher ist in Großbritannien längst kein Schlussstrich gezogen worden.
In den ‚japanischen‘ Romanen findet sich Thatcher naturgemäß nicht, aber dennoch scheinen die Muster, welche durch die Konstruktion des Thatcherismus in den übrigen Texten gezeichnet werden, auch hier zu rekurrieren. Dies ist ein klarer Fingerzeig, dass die Erzählungen Macht und Mächtige allgemein zu demaskieren suchen, und dass Thatcher eben nur als vielleicht extremer Auswuchs dieser Machtkorruption gedeutet wird. „GB84“ stellt der eigentlichen Romanhandlung einen Dialog zwischen zwei Figuren voran, der zweideutig mit „Power“ als Grundthema des gesamten Buches schließt: Power als Elektrizität, welche das zentrale Gut im Streik darstellt, aber ebenso Power als Macht in jederlei Hinsicht. In Peaces Werk scheint es so gut wie keine Person zu geben, die mit der ihr überlassenen Macht verantwortungsvoll umzugehen weiß. Auch wenn Maurice Jobson oder Bob Fraser im Kern moralische und halbwegs „gute“ Charaktere innerhalb des desillusionierenden Peaceʼschen Kosmos sind, so sind auch sie – wenn auch nicht im gleichen Maß wie andere Charaktere – korrumpiert, und zwar von der Macht, die ihre Position als Polizeibeamte ihnen einräumt. Frasers verhängnisvolle Affäre mit der Prostituierten Janice Ryan scheint eindeutig der Machthierarchie zwischen Polizist und Sexarbeiterin entsprungen zu sein, und Jobson sieht sich beispielhaft gefangen in einem Dilemma, in dem er durch seine Machtposition irgendwann die Verstrickungen des korrupten Polizeizirkels samt Gewalt und Mord nur noch decken kann, wenn er sich nicht selbst kompromittieren will. Gleichermaßen wird also auch an jedem dieser Beispiele deutlich, dass diese korrumpierende und manipulierende Seite der Macht für alle Charaktere am Ende auch den Grund für ihren Niedergang darstellt. Und ebenso scheint jede Figur in Versuchung zu geraten, die wenige Macht, die sich bietet, für die eigenen Zwecke zu missbrauchen. Terry Winters in „GB84“ ist ein Paradebeispiel für eine solche Figur, die regelmäßige Demütigungen von Arthur Scargill und anderen Personen aus dem Führungszirkel hinnimmt, weil er sich dennoch seiner Position rühmt und den ihm durch seine Rolle als Schatzmeister zustehenden Handlungsspielraum im Endeffekt zu Ungunsten der Gewerkschaft für seine Alleingänge nutzt. Ähnliches gilt für Stephen Sweet, der zwar als der große Manipulator Thatchers Truppen gegen die Gewerkschafter koordiniert, aber doch im Grunde nichts sehnlicher wünscht als von Thatcher anerkannt zu werden. Jede Demütigung, weil er mal wieder übergangen wird und ihm keine Dankbarkeit der noch Mächtigeren zuteilwird, führt dazu, dass er den Arbeitskampf weiter verschärft, also seinerseits die gerade erfahrene Macht der Mächtigen nach unten weitergibt.
Nach diesem Roman wandte sich David Peace einem anderen, ebenfalls nordenglischen, Thema zu und veröffentlichte mit „Damned United“ („The Damned Utd“, 2006) einen Roman, der von den meisten Kritikern als der beste und wichtigste Fußballroman innerhalb des als New Football Writing betitelten und seit den 1990ern florierenden Genres gilt. In „Damned United“ fiktionalisiert Peace eine signifikante Episode des englischen Fußballs: Im Jahr 1974 übernahm der aufstrebende und unkonventionelle Brian Clough das Traineramt beim Spitzenclub Leeds United, nachdem deren Erfolgstrainer Don Revie zur englischen Nationalmannschaft gewechselt war. Dies war insofern bemerkenswert, als dass Clough über Jahre hinweg eine öffentliche Feindschaft mit Revie und seinem Team in Leeds kultiviert hatte. Clough hatte als 32-jähriger den Zweitligisten Derby County übernommen, nach zwei Jahren in die erste Liga und nur weitere zwei Jahre später sensationell zum Meistertitel geführt. Leeds und Revie waren Derbys große Rivalen, und während Clough attraktiven Angriffsfußball zelebrieren ließ, hatte Leeds den Ruf als „Dirty Leeds“ erworben, das meist unattraktiv mit 1:0 gewann und subtil aggressiv und unfair agierte. Der Verein sah sich oftmals Anschuldigungen gegenüber, Schiedsrichter zu beeinflussen und den Erfolg die Mittel heiligen zu lassen. Clough hatte diesen Antagonismus gegenüber Leeds so überhöht und sich und sein Team als Bollwerk der Moral inszeniert, dass es überraschte, dass genau dieser Trainer im Sommer 1974 ebendieses Team übernahm, nachdem er im Machtkampf mit dem Präsidium in der Vorsaison seine Demission bei Derby County provoziert hatte. Dieses Unterfangen scheiterte jedoch kläglich: Nach nur 44 Tagen und einem einzigen Sieg in sechs Ligaspielen wurde der erfolglose Clough in Leeds wieder entlassen.
Der Roman stellt zwei alternierende Handlungsstränge gegenüber: Aus der Ich-Perspektive der Gegenwart werden Cloughs nahezu biblische 44 Tage in Leeds beschrieben. Aus der zweiten Person wird in Rückblenden Cloughs Zeit in Derby vom kometenhaften Aufstieg bis zu den Grabenkämpfen rund um seine Entlassung erzählt. Der fiktionalisierte Protagonist ist ein Missverstandener und ein Getriebener, der aus unspezifischen Formen der Rache seine Motivation zieht: mal an seinem Widersacher Revie, dann am Präsidium seines alten Clubs, dann aber vor allem am Schicksal, das ihm mit einer schweren Verletzung die Karriere als Spieler früh zerstörte. Die Besessenheit, mit der er den Trainerjob lebt, ist dabei nur Kompensation des früheren Misserfolgs, ebenso wie der offen zur Schau gestellte Größenwahn auch Kompensation ständiger Selbstzweifel und eines krankhaften Zwangs zur Rechtfertigung seines Tuns zu sein scheint. So wird auch die Sisyphos-Aufgabe legitimiert, ausgerechnet mit Leeds erfolgreich sein zu müssen. Clough scheitert gnadenlos, weil er keinen Zugang zu seinem neuen Team findet, welches seine früheren Tiraden nicht vergessen hat und immer noch loyal gegenüber Revie ist, sodass die Entlassung am Ende unausweichlich scheint.
Die komplette Narrative ist von einem Gefühl des Unbehagens überlagert, welches die dem Neuankömmling feindselig gegenüberstehende Stadt Leeds als un-heimlichen Ort konstruiert, der Cloughs mit Arroganz kaschierte Paranoia noch verstärkt. Im fiktionalen Leeds regnet es nahezu ununterbrochen, in den Fluren wird hinter Cloughs Rücken geflüstert und intrigiert, und über allem schwebt der Geist von Don Revie. Clough hingegen ordnet alles seiner persönlichen Rehabilitierung unter. Es geht kaum mehr um Leeds United oder Derby County, sondern nur um Brian Clough. Der englische Fußball der 1970er wird, anders als in vielen anderen Narrativen, somit nicht nostalgisch verklärt, sondern als kalte und chauvinistische Welt interpretiert, die keinen Raum für Schwäche duldet und Clough dadurch wie einen tragischen Helden sehenden Auges in sein Scheitern laufen lässt.
Sieben Jahre später widmete sich David Peace erneut dem Thema Fußball. „Red or Dead“ (Rot oder tot, 2013) knüpft insofern an „Damned United“ an, als dass auch hier die Geschichte eines legendären Fußballtrainers fiktionalisiert wird. Dieses Mal geht es um Bill Shankly, der aus dem Zweitligisten Liverpool F.C. innerhalb weniger Jahre das national und international erfolgreichste englische Team der 1970er und 1980er Jahre formte.
Die erste Hälfte („Every Day is Saturday“) des – analog zur Anzahl der Spielminuten beim Fußball in 90 Kapitel eingeteilten – Romans beginnt damit, dass zwei Direktoren des Liverpool F.C. im Jahr 1959 Bill Shankly zum Vereinswechsel an die Merseyside überreden. Shankly nimmt die Arbeit in Liverpool auf, die in den nächsten 15 Jahren kaum Rückschläge und zumeist große Erfolge bereithält: Aufstieg, drei Meisterschaften, zwei nationale Pokalsiege und schließlich der UEFA-Cup als internationaler Erfolg. Minutiös wird in diesem ersten Teil eine Unzahl an Trainingseinheiten und Wettbewerbsspielen erzählt, geprägt von rituellen Wiederholungen von Abläufen und der detaillierten Auflistung statistischer Details wie Zuschauerzahlen, Torschützen etc. Wirkt dies für den Leser kleinteilig und ermüdend, so ist der Effekt dieser Erzählweise die Betonung der Routinen von Shanklys Job. Es sind nicht nur die großen Finalspiele, sondern vor allem die täglich wiederholten Praktiken, welche die Identität des arbeitssüchtigen und detailverliebten Managers definieren. Darüber hinaus zeichnet der Roman nach, wie Shankly eine bemerkenswert enge Beziehung zu den Fans seines Clubs aufbaut. Als überzeugter Sozialist interpretiert Shankly die Rolle des Clubs und seiner Angestellten als Dienst an der Gemeinschaft und insbesondere der Arbeiterklasse Liverpools, die zu dieser Zeit noch den Großteil des Publikums stellt.
Während „Damned United“ narrativ ungemein vom Scheitern Brian Cloughs profitierte, geht dies der Erfolgsgeschichte Shanklys in Liverpool ab; der Protagonist Shankly ist zudem von manchem Rezensenten als „angelic“, also engelsgleich charakterisiert worden, und erreicht nicht annähernd die Komplexität, die der Vorgängerroman aus Cloughs (ego-)manischem Verhalten zu ziehen vermochte. Diese Tiefe erhält „Red or Dead“ in der zweiten, vom Umfang sehr viel kürzeren Hälfte, „Every Day is Sunday“.
Ein wichtiger Subtext in der Charakterisierung Shanklys ist sein offen zur Schau gestellter Sozialismus. Der Trainer betont immer wieder das Ethos des Fußball-‚Arbeiters‘, übt den Schulterschluss mit den Arbeitern unter den Fans und positioniert sich politisch klar auf der Seite Harold Wilsons und gegen Personen wie Margaret Thatcher. Der Buchtitel spielt selbstverständlich sowohl auf Liverpools Vereinsfarbe als auch auf das Rot des Sozialismus an, und die Mehrzahl der 90 Kapitelnamen referenziert Gedichte des schottischen Dichters Robert Burns, der für Shankly den Inbegriff der sozialistischen Idee repräsentiert. Dies ist jedoch kein doktrinärer Sozialismus, sondern vielmehr eine rhetorische Figur, welche sich auf das vage Ideal des sozialen Kollektivs bezieht, aber gerade in dieser unideologischen Form die Arbeiter der Hafenstadt anspricht und gleichzeitig als Idee des Mannschaftssports Fußball für Shankly und sein Team funktioniert.
Dadurch dass Peace seine beiden Fußballromane nicht als weitere Beispiele einer formelhaften utopischen Sportnarrative folgen lässt, entwirft er einen Gegenpol zum Genre des New Football Writing, der mit jeglicher nostalgischen Verklärung eines angeblich organischen und romantischen Fußballs jenseits der 1990er und der neugegründeten Premier League bricht. Auch wenn sich der Charakter des Bill Shankly als Projektionsfläche für nostalgische Schönfärbungen eignen mag, scheitert doch selbst er an diesem Zirkus. Weil die Romane jedoch nicht nur um den Sport an sich kreisen, eignen sie sich in ihrer gesamtpolitischen Aussage dennoch als Kritik am kommodifizierten Fußballsport. Durch die Referenzen an den Aufstieg Margaret Thatchers konzipiert Peace seine Texte als Mahnung, dass eben auch der kommerzialisierte Fußball sich nicht ohne politischen Nährboden so von seiner Basis entfremden konnte, weshalb für „Damned United“ und „Red or Dead“ der „point of no return“ augenscheinlich nicht die Stadionkatastrophe von Hillsborough im Jahr 1989 ist, sondern vielmehr der Wahlsieg der Konservativen zehn Jahre zuvor.
„Tokio im Jahr Null“ aus dem Jahr 2007 ist der erste Roman Peaces mit einer japanischen Handlung. Auch hier ist als historischer Rahmen eine Epoche gewählt, die als prägnanter Wendepunkt für alle sozialen und politischen Beziehungen gilt. Anders als die 1970er und 1980er für Großbritannien, ist dies im Falle Japans jedoch die unmittelbare Nachkriegszeit, in der die Nachwirkungen der Kapitulation und des verlorenen Weltkrieges, samt der beiden verheerenden Atombombenangriffe und der Besetzung durch die US-Armee, das Leben der Charaktere prägen.
Mindestens genauso wichtig für den Eindruck des Romans wie die Ermittlung Minamis ist die alles durchdringende Atmosphäre des unmittelbar erlebten Kriegsendes. Die Beziehungen zwischen allen Charakteren sind von einer steten Unsicherheit und Misstrauen geprägt, weil man bei niemandem sicher sein kann, auf welcher Seite er steht. Korruption und pragmatischer Egoismus sind sowohl im Öffentlichen als auch im Privaten überall zu erfahren und den japanischen Charakteren ist das Gefühl der kollektiven Niederlage ein grundlegendes Identitätsmerkmal. Den drei Teilen und dem Prolog des Romans sind Titelseiten mit angedeuteten Schwarz-Weiß-Fotografien vorangestellt, welche Kriegsverlierer mit gesenktem Kopf oder auf Knien zeigen. Selbst Kodairas Morde bekommen in Peaces Roman eine Dimension, die an die Kapitulation Japans gemahnt, denn Kodaira erklärt, dass seine hungrigen Opfer für Brot zu sexuellen Handlungen mit ihm bereit waren. Die durch die Kriegsniederlage bedingte Armut der Japaner macht es einem Massenmörder wie Kodaira somit leichter, passende Opfer für seine Triebe zu finden. Überhaupt treibt die Kapitulation die Unterlegenen entweder auf den Schwarzmarkt oder in die Prostitution. Gerade das Geschäft mit käuflicher Liebe wird zum Sinnbild der neuen Machtstrukturen zwischen amerikanischen Besetzern und Japanern: grafisch und brutal wird beschrieben, wie junge japanische Mädchen gegen Geschlechtskrankheiten immunisiert werden, um dann den GIs – auch wieder bildlich auf Knien – zu deren Befriedigung zur Verfügung zu stehen. Diese undurchsichtige und vom steten Gefühl der Niederlage geprägte neue Welt zu navigieren, ist für Minami ebenso unmöglich wie das nordenglische Yorkshire 30 Jahre später für die Protagonisten der „englischen“ Romane.
„Tokio Besetzte Stadt“ (2009), der zweite Teil der als Tokio-Trilogie angekündigten Reihe, behandelt eines der schwersten Verbrechen der frühen Nachkriegsgeschichte Japans, das sogenannte Teikoku-Massaker. Am 26. Januar 1948 gab ein Mann in einer Filiale der Teikoku Bank vor, von den Gesundheitsbehörden geschickt zu sein, um die eventuell mit der ansteckenden Ruhrkrankheit infizierten Mitarbeiter durch ein Gegenmittel zu immunisieren. Von den anwesenden 16 Personen wurden 12 unmittelbar durch das Gift im vorgeblichen Medikament getötet. Das Verbrechen und die Suche nach dem Täter beschäftigten die japanische Nation eine ganze Zeit lang: Nach einem halben Jahr wurde der Maler Hirasawa Sadamichi verhaftet und zum Tode verurteilt, auch wenn bis zum heutigen Tage große Zweifel an seiner Schuld bestehen.
Die Rahmenhandlung des Romans wird von einer Erzählinstanz namens „writer“ koordiniert, welche durch ein Medium verschiedene Stimmen in den Zeugenstand ruft: In einer vor jedem der zwölf Kapitel wiederkehrenden Sequenz erscheint dem Autor eine neue Person, die einen egal wie entfernten Bezug zum Teikoku-Massaker hat. Dies ist mal eine der vier Überlebenden, mal ein Detektiv der Polizei, mal ein Journalist, mal ein US-amerikanischer Biowaffenkontrolleur, mal der Hauptverdächtige, oder mal die Mutter eines Opfers. Der fiktive Autor, der sich in diesen nächtlichen Szenen in einem Stadttor befindet, fungiert als eine Art Echokammer, um in dem jeweils folgenden Kapitel die Geschichte der neuen Figur zu erzählen. Zwar werden in diesen Teilen schnell Zweifel an der angeblichen Schuld des später verurteilten Hirasawa deutlich, und eine Ahnung entwickelt sich, dass der wirkliche Täter eine Verbindung zu einer geheimen Armeeeinheit haben muss, die während des Krieges mit verschiedensten Formen biologischer Kriegsführung experimentierte. Dennoch wird, ähnlich wie in den vier Teilen des „Red Riding Quartet“, keine konventionelle Lösung des Verbrechens präsentiert.
Viel zentraler als die Frage nach dem wirklichen Täter ist in „Tokio Besetzte Stadt“ das Mosaik, das sich durch die zwölf Kerzen (so die Bezeichnung in den Untertiteln) der unterschiedlichen Kapitel ergibt. Diese bringen demnach zwar nur bedingt Licht ins Dunkel der Tat, fungieren aber als Mahnmal an das Verbrechen. Die zwölf Teile unterscheiden sich signifikant, vor allem in Erzählform (Tagebuch, Ermittlungsnotizen, Briefe, Memoiren, dreigeteilter stream of consciousness, etc.), Tonfall und Länge, aber so entsteht ein vielleicht diffuses, jedoch umso eindringlicheres und atmosphärisches Porträt Tokios unter amerikanischer Besatzung. Die beängstigende Darstellung der Gefahr durch Kriegsführung mit Viren oder Bakterien verstärkt das bereits im ersten Teil der Trilogie allgegenwärtige Unbehagen der meisten Protagonisten in einer besetzten Stadt, die ihre Loyalitäten zwischen Ost und West, zwischen Vergangenheit und Moderne, täglich neu verhandeln muss. Vor allem rekurriert die Erzählform aber auch auf einen für die japanische Literatur und Kultur prägenden Intertext, nämlich
Im Jahr 2018 veröffentlichte Peace seinen dritten Japan-Roman, jedoch nicht den lange angekündigten dritten Teil (welcher unter dem Titel „Tokyo Redux“ im Mai 2020 erscheinen soll) der mit „Tokio im Jahr Null“ und „Tokio Besetzte Stadt“ begonnenen Trilogie, sondern „Patient X. The Case-Book of Ryūnosuke Akutagawa“ (Patient X. Die Fallsammlung des Ryūnosuke Akutagawa). Hierbei handelt es sich nicht um die Aufarbeitung eines Kriminalfalls wie in den ersten japanischen Romanen; „Patient X“ ist die fiktionalisierte Geschichte des japanischen Schriftstellers Akutagawa (1892–1927) und somit in gewisser Weise näher an Peaces faktional-biografischen Fußballromanen als an den ersten Folgen der Tokio-Trilogie. Dennoch steht „Patient X“ auch in der Tradition der Vorgängertexte: „Tokio im Jahr Null“ wurde mit einem Zitat Akutagawas als Epigraf versehen, und „Tokio Besetzte Stadt“ ist in seiner gesamten Erzählstruktur und Multiperspektivität an den auf einer Akutagawa-Geschichte basierenden Film „Rashōmon“ angelehnt.
Wie alle Protagonisten bei David Peace ist Akutagawa, einer der wichtigsten japanischen Schriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts, ein Getriebener, besessen von seiner Kunst, aber auch gepeinigt von inneren Dämonen und gezeichnet vom Trieb nach Perfektion. Akutagawa verliert früh seine psychisch kranke Mutter, wächst bei der ihn prägenden liebevollen Tante auf, und entwickelt doch schon früh die Vorstellung, dass ihn ein der Mutter ähnliches Schicksal ereilen wird. In seinen Zwanzigern ist er bereits stark medikamentenabhängig, findet nur sporadisch Schlaf und ist generell rastlos, bis zu seinem Freitod im Alter von 35 Jahren durch eine Überdosis Barbital.
Der Roman ist in zwölf Episoden oder Schlaglichter auf Akutagawas Leben eingeteilt, die aus verschiedenen Blickwinkeln und unterschiedlichen Formen dessen kurzes Leben und seine Kunst beleuchten. Der Künstler stellt sich hier dar als ein Wanderer zwischen den Welten, der von japanischer Folklore genauso beeinflusst wird wie vom europäischen Modernismus, der von Mythologie ähnlich fasziniert ist wie von Aspekten des Christentums. Ein zentrales Motiv ist das des Doppelgängers, welches als literarische Figur und ästhetisches Mittel aber auch als Widerhall des Unterbewusstseins in Erscheinung tritt. Fast als selbstironischer Metakommentar des Autors David Peace über sein wichtigstes Stilmittel heißt ein Kapitel „Repetition“, ist aber gleichzeitig auch Sinnbild von Akutagawas Lesart der Welt als zyklische Abfolge sich wiederholender Motive.
Der Titel des Romans, gerade in Verbindung mit dem ‚case-book‘ aus dem Untertitel, erweckt den Eindruck, als handele es sich hierbei um Erzählungen eines Patienten aus dem Sanatorium: Regelmäßig konsultiert der fiktionale Akutagawa befreundete Ärzte, um die korrekte Medikation für seine Insomnie und seine Wahnvorstellungen zu besprechen. Andererseits funktioniert der Titel auch als Allegorie auf Christus am Kreuz, eine der wichtigsten Denkfiguren für Akutagawa, welcher in verschiedenen Werken über das Wirken Jesu schrieb: Der Buchstabe X steht dann als Kreuz, der englische „patient“ wird zum geduldig im Leid ausharrenden Künstler und verwandelt die Hauptfigur des Romans in einen Doppel- oder Wiedergänger.
Ryūnosuke Akutagawa stritt sich zu Lebzeiten wiederholt mit dem Autor Junʼichirō
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