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(ved.; Wissen der Verse) – Der Ṛgveda (auch: Ṛksaṃhitā, Ṛgvedasaṃhitā) ist der älteste der Veden und das bei Weitem älteste literarische Dokument Indiens. Diese Sammlung von 1028 hochpoetischen Sūktas (Wohlformulierte [Gedichte]) – deklamierte Hymnen und gesungene Lieder, beide im Folgenden zusammengefasst als Lieder bezeichnet – mit insgesamt 10 462 Strophen wurde von den vedischen Stämmen, die seit etwa 1800 v. Chr. in den Nordwesten des indischen Subkontinents einwanderten, zur kultischen Verehrung ihrer Götter verwendet. Diese wurden mit ihrer Hilfe von verschiedenen Priestern zum Opfer gerufen. Anlässlich solcher Opfer, deren vornehmste Gabe der Rauschtrank Soma war, wurden die Lieder dann diesen Göttern zur Erbauung, Huldigung und Verabschiedung vorgetragen. Diese spezifische Verwendung spiegelt sich in Inhalt und Struktur der einzelnen Lieder und im Aufbau des gesamten Ṛgveda.
Die Lieder des Ṛgveda, deren kürzestes eine und deren längstes 58 Strophen umfasst, entstanden innerhalb einzelner Familien, von denen sie einige Zeit tradiert wurden, ehe diese separaten Überlieferungen zu einer einzigen Liedersammlung zusammengefasst wurden. Dies scheint gegen Ende der sogenannten ṛgvedischen Periode um etwa 1000 v. Chr. geschehen zu sein, als der Stamm der Kurus unter König Parikṣit die umlaufenden Mantras (Sprüche) zu einer Sammlung (Saṃhitā) vereinigte, die dem heutigen Ṛgveda bereits sehr ähnlich war. Dieser ist in zehn Maṇḍalas ([Lieder]kreise) – mit 85 Anuvākas (Vorträge) – eingeteilt, von denen die Tradition die Maṇḍalas 2 bis 7 jeweils einer von sechs Familien zuschreibt: den Gṛtsamadas, Viśvāmitras, Vāmadevas, Atris, Bharadvājas bzw. Vasiṣṭhas. Dies wird in der Tat durch den Ṛgveda bestätigt. Denn viele Lieder eines solchen Maṇḍalas sind durch die Nennung des Familiennamens und/oder eine Art Familiensiegel – eine gemeinsame Strophe oder einen entprechenden Vers – gekennzeichnet. So werden z. B. im zweiten Maṇḍala die Gṛtsamadas wiederholt namentlich genannt, sieben von 43 Liedern weisen dieselbe Schlussstrophe auf. Weiteren 15 ist der letzte Vers gemein, entweder wörtlich oder in Variationen. Solche Familienstrophen und -verse stehen für gewöhnlich am Ende der Indra-Liedreihe, was die Wertschätzung gerade dieses Gottes nachdrücklich belegt.
Diese Familien-Maṇḍalas stellen – zusammen mit dem neunten Maṇḍala, dessen Lieder die Pressung und Reinigung des Soma begleiteten – den Kern des Ṛgveda dar. Einen ersten Anhang bilden die Lied-Sammlung der Kāṇva-Familie im achten Maṇḍala (8,1–66) und, mit engen Beziehungen zu dieser, eine von verschiedenen kleineren Familien im ersten Maṇḍala (1,51–191). Sodann wurden offenbar die restlichen Lieder des ersten und des achten Maṇḍala und verschiedene Anhangslieder der Familien-Maṇḍalas angefügt. Den Abschluss der Sammlung bildet schließlich das zehnte Maṇḍala, was nicht zuletzt dessen Sprache ausweist. Da die erstarrende liturgische Technik, die für alle Stellen des Kults bestimmte altererbte Lieder vorschrieb, kein Bedürfnis mehr für neue Opferdichtung hatte, suchte sich die Poesie nun neue Themen, die vormals nur beiläufig gestreift worden waren. So nimmt in diesem Liederkreis etwa die Zahl philosophischer, insbesondere kosmogonischer Lieder deutlich zu.
Innerhalb des Ṛgveda folgen die Familien-Liederkreise aufeinander nach steigender Zahl der sie (ursprünglich) bildenden Lieder. Diese Zahl nimmt von 43 im zweiten Liederkreis auf mehr als 100 im siebten und achten zu. Innerhalb eines jeden dieser Liederkreise ist der Stoff wiederum nach bestimmten Kriterien geordnet, so nach der Gottheit, an die das Lied gerichtet ist, nach der Strophenzahl der Lieder und nach der Länge der verwendeten Metren: Die Maṇḍalas 2 bis 7 eröffnen alle mit einer Agni-Liedserie, auf die eine Serie an Indra folgt. Die übrigen Serien, die den anderen Göttern des Pantheons gelten, sind nach absteigender Liedzahl geordnet, und innerhalb der einzelnen Serie gilt das Prinzip der absteigenden Strophenzahl, wobei, wenn diese gleich ist, die Länge des Metrums entscheidet, auch hier in absteigender Richtung. Die Verletzung dieser Anordnungsregeln gestattet Schlüsse auf die relative Chronologie der Lieder. So wurden jene Lieder, die sich den geltenden Ordnungsregeln nicht fügen, wohl erfasst bzw. erweitert oder umgestaltet, als die Sammlung des Ṛgveda bereits (weitestgehend) abgeschlossen war. Zu diesen Anhangsliedern gehören etwa 2,42–43; 3,52–53 und 6,74–75.
Wie viele vedische Texte kennt auch der Ṛgveda eine doppelte Einteilung. Neben der Einteilung in Maṇḍalas steht eine andere in acht Achtel (aṣṭaka), die etwa gleiche Größe besitzen. Jedes Achtel ist weiter in acht Lektionen (adhyāya) unterteilt, die aus jeweils (in aller Regel) 60 Fragen (praśna) bestehen – nach Anzahl ihrer Silben in bestimmter Weise verbundene Strophen –, und wiederum in eine gewisse Zahl von Gruppen (varga) – im gesamten Ṛgveda insgesamt etwas über 2000 – von im Allgemeinen fünf Strophen. Auf diese ganz schematische Textgliederung nimmt erstmals die Sarvānukramaṇī (Verzeichnis von Allem) des Kātyāyana (ca. 300 v. Chr.) Bezug, während ältere Texte sie augenscheinlich noch nicht kennen.
Es sind sprachliche Kriterien, die eine zeitliche Einordnung des ganzen Ṛgveda und eine chronologische Schichtung seiner Liederkreise möglich machen. Den Endpunkt ṛgvedischer Dichtung markiert der zehnte Liederkreis. Es ist sicherlich auch kein Zufall, dass dieser mit 191 Liedern denselben Umfang hat wie der erste. Mit ihm befinden wir uns an der Grenzscheide zum Atharvaveda und Yajurveda und zur gesamten Brāhmaṇa- und Sūtra-Literatur (Kalpasūtras). Mit der Periode, in der die letztgenannten Werke entstanden sind, wird einhellig die ›Painted Grey Ware Culture‹ zusammengebracht, deren oberes zeitliches Limit zwischen etwa 1000 und 800 v. Chr. liegt. Die Lieder des zehnten Maṇḍala dürften folglich um etwa 1200–1100 v. Chr. entstanden sein. Zeitliche Obergrenze ist der bereits genannte Zeitpunkt der Einwanderung der vedischen Stämme, also etwa 1800 v. Chr. Im Laufe von etwa 600 Jahren schoben sich die vedischen Stämme nach Osten bis hin zum Ganges. Lassen sich die Familien-Liederkreise dem Kern des Siedlungsraumes der ṛgvedischen Stämme, dem Gebiet der sieben Ströme (sápta síndhavaḥ) – etwa der heutige Pandschab – zuordnen, dergestalt, dass die Maṇḍalas 5 und 6 deutlich dem Westen, 2 und 3 dem Osten, 8 dem Westen und der Mitte und 7 dem Osten und der Mitte zugehören, so zeigt das zehnte Maṇḍala eine deutliche Ostverlagerung der ṛgvedischen Kultur.
Der (durchgehend akzentuierte) Text des Ṛgveda ist in dem Wortlaut überliefert, den der – in Pāṇinis Aṣṭādhyāyī (Sammlung von acht Kapiteln [grammatischer Regeln]) zitierte und folglich vor dem 5. Jh. v. Chr. lebende – Grammatiker Śākala mit seiner »Wortrezitation«, dem Padapāṭha, versehen hat, der ersten (allerdings noch rudimentären) Analyse des Textes des Ṛgveda. Neben dieser sogenannten Śākala-Rezension soll es eine weitere gegeben haben, die geringfügige Abweichung gezeigt haben soll. So soll diese Bāṣkala-Rezension gegenüber der Śākala-Rezension, in der nach Lied 8,48 elf sogenannte Vālakhilya-Lieder stehen, deren nur sieben gekannt haben. Von diesen soll sie die ersten beiden an derselben Stelle wie der Śākala-Text, also nach 8,48, die folgenden fünf aber nach 8,94 eingefügt haben. Auch soll dort die Kutsa-Sammlung im ersten Maṇḍala, also die Lieder 1,94–115, auf die Parucchepa-Lieder, also die Lieder 1,127–139, gefolgt sein, und es soll ein anderes Lied, das sogenannte Saṃjñāna-Lied mit 15 Strophen, am Ende der ganzen Sammlung, also hinter 10,191, dem letzten Lied ›unseres‹ Śākala-Textes, gestanden haben.
Von unbedeutenden Kleinigkeiten abgesehen – Ergebnis der sogenannten orthoepischen Diaskeuase, durch die der Text des Ṛgveda in eine jüngere Lautform gekleidet wurde –, wurde der Wortlaut der Lieder in rein mündlicher Überlieferung mit einer Treue, wie sie bei kaum einem anderen Werk der Weltliteratur anzutreffen ist, über Jahrtausende unverändert bewahrt, ehe sie – soweit feststellbar – über 3000 Jahre nach ihrer Entstehung erstmals schriftlich aufgezeichnet wurden. Diese Treue ist nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass seit frühester Zeit der Glaube bestand, nur ein absolut korrekt rezitierter Text könne die von ihm erwartete Wirkung zeitigen.
Die Sprache des Ṛgveda ist eine hocharchaische, von Fremdwörtern größtenteils freie, in einzelne Dia- und Soziolekte gegliederte Form des Vedischen. Seine Opferlieder sind in einer hochpoetischen Diktion verfasst, die manche dichtersprachlichen Elemente mit der alt-ostiranischen Sprachform gemein hat, in der Zarathustra (vgl. Vorislamische iranische religiöse Literatur) seine »Gesänge« abgefasst hat. Und einige der gemeinsamen Elemente dieser beiden Traditionen besitzen Gegenstücke in den Literaturen anderer indogermanischer Völker, weisen somit über das Indoiranische hinaus auf eine indogermanische Dichtersprache. Durch mancherlei Schmuckmittel suchten die vedischen Dichter das Wohlgefallen ihrer überirdischen Zuhörer wachzurufen und zu gewinnen. Allen voran steht die rhythmische Rede; die Lieder des Ṛgveda sind ausnahmslos in aus Versen bestehenden Strophen verfasst. Und auch diese Metrik kehrt zum Teil in den Literaturen anderer indogermanischer Völker wieder; namentlich die Metrik bestimmter Vershymnen Zarathustras und die einiger Gedichte Sapphos ist so eng verwandt, dass indogermanisches Erbe vermutet werden darf. Doch bei aller Virtuosität der Dichter sind die Lieder des Ṛgveda auf weite Strecken vergleichsweise schematisch, was sich aus dem Umstand erklärt, dass sie als rein orale Dichtung entstanden sind. Ihre Sprache ist in hohem Maße formelhaft, sie bedient sich eines Grundstocks vorgefertiger Bausteine (feststehende Wendungen, Klischees, Stereotypen, Topoi, Formeln), wenn Personen und Objekte, Situationen und Geschehnisse beschrieben werden sollen. Und sie gehorcht strengen metrischen und rhythmischen Regeln, was die Verwendung bestimmter Wörter an bestimmten, metrisch relevanten Stellen des Verses geradezu erzwingt.
In späterer Zeit wurde der Ṛgveda fest einem bestimmten Opferpriester, dem Hotṛ, und seinen Gehilfen zugeordnet, während die Teile, die zu bestimmten Melodien gesungen wurden – im wesentlichen aus Maṇḍalas 8 und 9 stammend –, im Sāmaveda gesammelt wurden, der dem Udgātṛ-Priester bei der Verrichtung seines Parts im Ritual diente.
Die nach Abschluss der Zusammenstellung und Redaktion des Ṛgveda entstandenen Lieder wurden auf verschiedene Weise tradiert. In Kaschmir wurden sie als Khilas (Supplemente) in einem eigenen Text gesammelt, der, fünf Lektionen (adhyāya) umfassend, einen Anhang zum Text des Ṛgveda bildete.
Ausg.:Rig-Veda-Sanhita. The Sacred Hymns of the Brahmans Together with the Commentary of Sayanacharya, 6 Bde, Hg. F. M. Müller, 1849–1874. • Die Hymnen des Rigveda, 2 Bde, Hg. T. Aufrecht, 21877.
Übers.:Der Rig-Veda. Aus dem Sanskrit ins Deutsche übersetzt und mit einem laufenden Kommentar versehen, 4 Bde, K. F. Geldner, 1951–1957. • Rig-Veda. Das heilige Wissen. Erster und zweiter Liederkreis, M. Witzel/T. Gotō/E. Dōyama/M. Ježić, 2007.
Lit.:H. Oldenberg: Metrische und textgeschichtliche Prolegomena zu einer kritischen Rigveda-Ausgabe, 1888. • S. Jamison: The Rig Veda Between Two Worlds, 2007. • T. Oberlies: Der Rigveda und seine Religion, 2011.