Alain Finkielkraut
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Internationales Biographisches Archiv
Ergänzt um Nachrichten durch MA-Journal bis KW
Alain Finkielkraut wurde am 30. Juni 1949 als einziger Sohn jüdischer Eltern in Paris geboren. Sein Vater, ein aus Polen stammender Lederwarenhändler, hatte die Deportation nach Auschwitz überlebt. Die jüdische Identität ist für F., geprägt durch die Erfahrungen seiner Eltern und der gesamten Generation, nach eigener Aussage v. a. vom Überleben des Völkermords geprägt. Verschiedentlich hat sich F. als "atheistischer Jude" bezeichnet.
Nach dem Abitur (1969) am Pariser Lycée Henri IV studierte F. an der École normale supérieure (ENS) moderne Literaturwissenschaften.
Pariser QuerdenkerDer Literaturwissenschaftler und Philosoph lehrte 1974-2014 als Professor an der Pariser École Polytechnique und schrieb regelmäßig Kolumnen für "LE MONDE". Er hatte sich Anfang der 1970er Jahre bei den Neuen Linken engagiert und positionierte sich zeitweise als Maoist. Bald galt er als einer der profiliertesten und umstrittensten Pariser Querdenker, der sich immer wieder kontrovers in politische Debatten einmischte und sich kritisch mit dem Zeitgeist beschäftigte. Mit dem Buch "Die neue Liebesunordnung" setzte er sich schon 1977 kritisch mit der Illusion der Unverbindlichkeit in der "freien Liebe" und anderen Missverständnissen der Bewegung von 1968, die mit den Studentenunruhen in Paris ihren Anfang genommen hatte, auseinander. Ein zentrales Thema F.s ist der Zusammenhang von Genozid, Erinnerung und Vergessen. Mit seinem wohl bekanntesten, 1982 erschienenen Buch "Der eingebildete Jude" veröffentlichte er eine Polemik über die nachgeborene Generation und ihren Umgang mit dem Genozid. In der politischen Bewegung der 1968er spielte seiner Ansicht nach das Bild des Judentums eine zentrale und ambivalente Rolle: "Es gab den Wunsch, sich mit der Résistance zu identifizieren, mit dem absoluten Opfer, das die Juden verkörperten. Gleichzeitig aber entfernte sich Israel vom Bild des Juden als Opfer. Der Antizionismus als Reaktion auf die Politik Israels wurde heftig und übernahm – in großer Unschuld, ohne sich dessen bewusst zu werden – seinerseits die Themen des klassischen Antisemitismus", so F. in einem Interview (FAZ magazin, 4.7.1986).
Vertreter der Nouveaux PhilosophesF., der sich den Philosophen
Nach F. ist es die "Aufgabe der Philosophie", die Öffentlichkeit in politischen Fragen zu mobilisieren. In dieser Eigenschaft war er z. B. ab Anfang der 1990er Jahre als engagierter Befürworter westlicher Intervention gegen Serbien im Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien aufgetreten, blieb mit seinen Positionen dabei wegen einer unkritischen Haltung gegenüber der anderen Bürgerkriegspartei in Kroatien aber auch heftig umstritten. So hatte der Schriftsteller
Philosophische Bücher zu aktuellen Vorgängen"Verlust der Menschlichkeit" (Orig. "L'Humanité perdue. Essay sur le XXe siècle") lautet der Titel von F.s 1998 auf dem deutschen Buchmarkt erschienenem Essay, in dem er den Versuch unternimmt, ein Resümee über Moral und Wertesystem der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts zu ziehen. Die Idee der Menschlichkeit, so F.s Bilanz, sei verschwunden, selbst bei humanitären Organisationen, die die Schlechtigkeit der Welt benötigten, um die Rettung als Selbstzweckprogramm zu verwirklichen. 2001 stoppte der Schriftsteller zunächst die schon gedruckte deutsche Übersetzung seines Buches "L'ingratitude", da er auf der wörtlichen Übersetzung der Originalversion in "Die Undankbarkeit. Gedanken über unsere Zeit" beharrte. Diese Polemik gegen eine aus seiner Sicht grassierende humanitäre Phraseologie, in der F. eine Ignoranz gegenüber der abendländischen Geistesgeschichte am Werk sah, stieß auf ein unterschiedliches Medienecho. Sah die Süddeutsche Zeitung (20.12.2001) in den provokanten Gesprächsnotizen eine erfrischende Lektüre, so kritisierte die Frankfurter Rundschau (10.10.2001), dass der konservative jüdische Intellektuelle seine Argumentation polemisch überreize und sich teilweise "in die Nähe eines restlos reaktionären Abendländertums" begebe.
Rege öffentliche WortmeldungenF. moderierte seit Anfang der 1990er Jahre samstags die Sendung "Répliques" des französischen Radiosenders France-Culture und war auch stets im französischen Fernsehen sehr präsent. Von linken Medien gelegentlich als Reaktionär kritisiert, beteiligte er sich immer wieder mit bisweilen äußerst provokanten Äußerungen an aktuellen gesellschaftspolitischen Diskussionen. So geriet er im Nov. 2005 mit einem Interview über die Ursachen der Unruhen in den französischen Banlieues in die Kritik, weil er den ethnisch-religiösen Hintergrund und die muslimische Herkunft der Protestierenden als gravierender einstufte als die soziale Benachteiligung. Von den rassistischen Tönen, die manche in seinen Interview-Äußerungen sahen, distanzierte er sich später. Zusammen mit dem deutschen Philosophen
Nach einer rund einjährigen Schaffenspause wegen einer schweren Krebserkrankung und depressiver Phasen meldete sich F. im Sept. 2009 wieder mit der Essaysammlung "Un coeur intelligent" zu Wort, setzte sich 2010 in einem TV-Diskurs mit dem linken Philosophen
Vor diesem Hintergrund gab es eine kontroverse Debatte darüber, ob F. den freigewordenen Platz in der 40-köpfigen Académie Française erhalten sollte. Am 10. April 2014 wurde er gleichwohl als Nachfolger des verstorbenen Romanciers
Auch in fortgeschrittenem Alter umstrittenImmer wieder mischte sich F. auch in den folgenden Jahren mit Essays, in Interviews und auch politischen Aktionen in aktuelle gesellschaftspolitische Debatten ein. So unterstützte er im Vorwahlkampf der Präsidentschaftswahl in Frankreich 2017 den ehemaligen republikanischen Premierminister
Nur noch in größeren Abständen folgten Buchpublikationen, so 2019 unter dem Titel "À la première personne" eine schmale Autobiographie, die 2021 in deutscher Übersetzung erschien. Seine kulturpessimistischen Einschätzungen, die er in dem Band "L’après littérature" (2021) vertiefte, wertete DIE WELT (23.11.2021) als "Fanfare gegen die Wokeness". Als Essayist und Interviewpartner war F. immer wieder gefragt, insbesondere angesichts des mörderischen Angriffs von Hamas-Terroristen auf israelische Zivilisten im Okt. 2023 und der nachfolgenden israelischen Militäroffensive in Gaza.
F. ist seit 1985 mit der Anwältin Sylvie Topaloff verheiratet und wohnt am linken Pariser Seine-Ufer. Er hat einen Sohn namens Thomas.
Veröffentlichungen u. a.: "Die neue Liebesunordnung" (77), "Das Abenteuer gleich um die Ecke" (81), "Der eingebildete Jude" (82), "Die Weisheit der Liebe" (86), "Die Niederlage des Denkens" (87), "Die vergebliche Erinnerung. Vom Verbrechen gegen die Menschheit" (89), "Verlust der Menschlichkeit" (98; Orig.: "L'Humanité perdue. Essay sur le XXe siècle", 96), "Die Undankbarkeit. Gedanken über unsere Zeit" (01), "Was zählt, kehrt wieder. Zeitdiagnostische Gespräche" (05; zus. mit Peter Sloterdijk), "Nous autres modernes" (05), "Un cœur intelligent" (09), "Et si l’amour durait" (11), "L'identité malheureuse" (13; "Die unglückliche Identität"), "La Seule Exactitude" (15), "À la première personne" (19; dt. 21, "Ich schweige nicht. Philosophische Anmerkungen zur Zeit"), "L’après littérature" (21; dt. 23, "Vom Ende der Literatur. Die neue moralische Unordnung").
2024:
Literatur: Christian Authier: "Alain Finkielkraut ou ce présent qui ne passe pas" (02).
Auszeichnungen: Europäischer Essaypreis (84), Aujourd'hui-Sachbuchpreis (99), Ehrendoktor der Universität Tel Aviv (07), Prix de l’Essai (10), Aufnahme in die Académie Française (14).
Mitgliedschaften/ Ämter: F. gründete im Jahr 2000 zusammen mit Benny Lévy und
c/o Éditions Stock, 21 rue du Montparnasse, 75006 Paris Cedex, Frankreich, Tel.: +33 1 49543655, Internet: www.editions-stock.fr