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Alain Finkielkraut

Alain Finkielkraut

französischer Philosoph
Geburtstag: 30. Juni 1949 Paris
Nation: Frankreich

Internationales Biographisches Archiv 21/2024 vom 21. Mai 2024 (se)
Ergänzt um Nachrichten durch MA-Journal bis KW 49/2024


Blick in die Presse

Herkunft

Alain Finkielkraut wurde am 30. Juni 1949 als einziger Sohn jüdischer Eltern in Paris geboren. Sein Vater, ein aus Polen stammender Lederwarenhändler, hatte die Deportation nach Auschwitz überlebt. Die jüdische Identität ist für F., geprägt durch die Erfahrungen seiner Eltern und der gesamten Generation, nach eigener Aussage v. a. vom Überleben des Völkermords geprägt. Verschiedentlich hat sich F. als "atheistischer Jude" bezeichnet.

Ausbildung

Nach dem Abitur (1969) am Pariser Lycée Henri IV studierte F. an der École normale supérieure (ENS) moderne Literaturwissenschaften.

Wirken

Pariser QuerdenkerDer Literaturwissenschaftler und Philosoph lehrte 1974-2014 als Professor an der Pariser École Polytechnique und schrieb regelmäßig Kolumnen für "LE MONDE". Er hatte sich Anfang der 1970er Jahre bei den Neuen Linken engagiert und positionierte sich zeitweise als Maoist. Bald galt er als einer der profiliertesten und umstrittensten Pariser Querdenker, der sich immer wieder kontrovers in politische Debatten einmischte und sich kritisch mit dem Zeitgeist beschäftigte. Mit dem Buch "Die neue Liebesunordnung" setzte er sich schon 1977 kritisch mit der Illusion der Unverbindlichkeit in der "freien Liebe" und anderen Missverständnissen der Bewegung von 1968, die mit den Studentenunruhen in Paris ihren Anfang genommen hatte, auseinander. Ein zentrales Thema F.s ist der Zusammenhang von Genozid, Erinnerung und Vergessen. Mit seinem wohl bekanntesten, 1982 erschienenen Buch "Der eingebildete Jude" veröffentlichte er eine Polemik über die nachgeborene Generation und ihren Umgang mit dem Genozid. In der politischen Bewegung der 1968er spielte seiner Ansicht nach das Bild des Judentums eine zentrale und ambivalente Rolle: "Es gab den Wunsch, sich mit der Résistance zu identifizieren, mit dem absoluten Opfer, das die Juden verkörperten. Gleichzeitig aber entfernte sich Israel vom Bild des Juden als Opfer. Der Antizionismus als Reaktion auf die Politik Israels wurde heftig und übernahm – in großer Unschuld, ohne sich dessen bewusst zu werden – seinerseits die Themen des klassischen Antisemitismus", so F. in einem Interview (FAZ magazin, 4.7.1986).

Vertreter der Nouveaux PhilosophesF., der sich den Philosophen Martin Heidegger, Hannah Arendt und Emmanuel Lévinas verbunden fühlt, deren Denksysteme er als die bedeutendsten des 20. Jahrhunderts bewertete, sah sich gleichzeitig nie einer philosophischen Schule zugehörig und lehnte sich gegen jegliche, den freien Diskurs beschränkende Barrieren auf. In verschiedenen Essays, so etwa in "Die Niederlage des Denkens" (1987), brandmarkte er die moderne Gesellschaft, deren Kulturverständnis durch Bequemlichkeit, Rassismus, Zerstreuung oder grenzenlosen Pluralismus des "anything goes" verformt sei. Seine Berufung auf Universalgeist und Volksgeist trug ihm jedoch auch die Kritik ein, mit "kulturkonservativer Rhetorik" gegen die Postmoderne ins Feld zu ziehen (FR, 10.7.1990). Zusammen mit André Glucksmann und Bernard-Henri Lévy wurde F. zum wichtigsten Vertreter der Bewegung der Nouveaux Philosophes, die geprägt von den Flüchtlingsströmen der sog. Boat People aus dem kommunistischen Vietnam und Solschenizyns Enthüllungen über stalinistische Straflager in der Sowjetunion (Gulags) bereits seit den 1970er Jahren gegen alle Formen von Gewaltherrschaft auftraten. "Im Namen eines prinzipientreu republikanischen Staatsbürgeruniversalismus und der Verpflichtung auf das Erbe einer nationalen Kultur machte er sich früh stark gegen das euphorische Neben-, Mit- und Durcheinander der Kulturen im Sinne des Multikulturalismus", schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung (29.6.2009).

Nach F. ist es die "Aufgabe der Philosophie", die Öffentlichkeit in politischen Fragen zu mobilisieren. In dieser Eigenschaft war er z. B. ab Anfang der 1990er Jahre als engagierter Befürworter westlicher Intervention gegen Serbien im Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien aufgetreten, blieb mit seinen Positionen dabei wegen einer unkritischen Haltung gegenüber der anderen Bürgerkriegspartei in Kroatien aber auch heftig umstritten. So hatte der Schriftsteller Peter Handke in seinem kontrovers diskutierten Serbien-Reisebericht "Gerechtigkeit für Serbien" 1995 den französischen Philosophen direkt angegriffen.

Philosophische Bücher zu aktuellen Vorgängen"Verlust der Menschlichkeit" (Orig. "L'Humanité perdue. Essay sur le XXe siècle") lautet der Titel von F.s 1998 auf dem deutschen Buchmarkt erschienenem Essay, in dem er den Versuch unternimmt, ein Resümee über Moral und Wertesystem der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts zu ziehen. Die Idee der Menschlichkeit, so F.s Bilanz, sei verschwunden, selbst bei humanitären Organisationen, die die Schlechtigkeit der Welt benötigten, um die Rettung als Selbstzweckprogramm zu verwirklichen. 2001 stoppte der Schriftsteller zunächst die schon gedruckte deutsche Übersetzung seines Buches "L'ingratitude", da er auf der wörtlichen Übersetzung der Originalversion in "Die Undankbarkeit. Gedanken über unsere Zeit" beharrte. Diese Polemik gegen eine aus seiner Sicht grassierende humanitäre Phraseologie, in der F. eine Ignoranz gegenüber der abendländischen Geistesgeschichte am Werk sah, stieß auf ein unterschiedliches Medienecho. Sah die Süddeutsche Zeitung (20.12.2001) in den provokanten Gesprächsnotizen eine erfrischende Lektüre, so kritisierte die Frankfurter Rundschau (10.10.2001), dass der konservative jüdische Intellektuelle seine Argumentation polemisch überreize und sich teilweise "in die Nähe eines restlos reaktionären Abendländertums" begebe.

Rege öffentliche WortmeldungenF. moderierte seit Anfang der 1990er Jahre samstags die Sendung "Répliques" des französischen Radiosenders France-Culture und war auch stets im französischen Fernsehen sehr präsent. Von linken Medien gelegentlich als Reaktionär kritisiert, beteiligte er sich immer wieder mit bisweilen äußerst provokanten Äußerungen an aktuellen gesellschaftspolitischen Diskussionen. So geriet er im Nov. 2005 mit einem Interview über die Ursachen der Unruhen in den französischen Banlieues in die Kritik, weil er den ethnisch-religiösen Hintergrund und die muslimische Herkunft der Protestierenden als gravierender einstufte als die soziale Benachteiligung. Von den rassistischen Tönen, die manche in seinen Interview-Äußerungen sahen, distanzierte er sich später. Zusammen mit dem deutschen Philosophen Peter Sloterdijk startete F. 2005 ein Projekt, das mit einer "Kritik der extremistischen Vernunft" auch das Phänomen der 1968er-Bewegung einordnen sollte.

Nach einer rund einjährigen Schaffenspause wegen einer schweren Krebserkrankung und depressiver Phasen meldete sich F. im Sept. 2009 wieder mit der Essaysammlung "Un coeur intelligent" zu Wort, setzte sich 2010 in einem TV-Diskurs mit dem linken Philosophen Alain Badiou auseinander und legte 2013 sein neues Buch "L’identité malheureuse" vor. Darin befasst er sich mit der "unglücklichen Identität" Frankreichs, führte bald die Bestsellerlisten seiner Gattung an und löste, so DIE ZEIT (5.12.2013), "ein Medienbombardement" aus, weil F. nun zum "Vorzeige-Intellektuellen eines scheinbar akzeptabel gewordenen Front National in Frankreich" geworden sei. F. beschreibt, so DER SPIEGEL (2.12.2013), "die Konflikte einer zerrissenen Gesellschaft, die er als feindseliges Gegenüber von Einheimischen und Zugezogenen wahrnimmt", und erklärte im SPIEGEL-Interview: "Die Linke will nicht wahrhaben, dass es einen Zusammenprall der Zivilisationen gibt." Dabei sprach er sich jedoch klar dagegen aus, den rechtsreaktionären Front National unter Vorsitz von Marine Le Pen zu wählen. Gleichwohl konstatierte die Süddeutsche Zeitung (21.22.12.2013), F. trage "mit seiner Obsession gegen den Islam dazu bei, dass die Republik mit ihm gerade einen ihrer bisher besten Anwälte verliert".

Vor diesem Hintergrund gab es eine kontroverse Debatte darüber, ob F. den freigewordenen Platz in der 40-köpfigen Académie Française erhalten sollte. Am 10. April 2014 wurde er gleichwohl als Nachfolger des verstorbenen Romanciers Félicien Marceau in die prestigeträchtige französische Gelehrtengesellschaft gewählt, wenn auch nur mit 16 von 28 abgegeben Stimmen. Anfang 2016 fand die offizielle Aufnahmezeremonie statt. Auf die "Vorwürfe der reaktionären Verbohrtheit, der elitären Ausgrenzung, des Islamhasses oder gar des Rassismus" reagierte F. "mit unerschöpflicher Empörungsbereitschaft", so die Süddeutsche Zeitung (29.1.2016).

Auch in fortgeschrittenem Alter umstrittenImmer wieder mischte sich F. auch in den folgenden Jahren mit Essays, in Interviews und auch politischen Aktionen in aktuelle gesellschaftspolitische Debatten ein. So unterstützte er im Vorwahlkampf der Präsidentschaftswahl in Frankreich 2017 den ehemaligen republikanischen Premierminister Manuel Valls, wandte sich jedoch enttäuscht ab, als dieser für den späteren Präsidenten Emmanuel Macron votierte. Im Febr. 2019 wurde F. von Teilnehmenden einer Demonstration der "Gelbwesten" in Paris antisemitisch beleidigt. Als später ein geheimdienstlich bekannter radikaler Islamist als Täter ermittelt wurde, löste dies erneut ein großes Medienecho aus. Zum 70. Geburtstag erfuhr der streitbare und umstrittene französische Intellektuelle und Philosoph auch in deutschen Medien zahlreiche Würdigungen (vgl. SZ, 28.6.2019; FAZ, 29.6.2019). Während der seit Anfang 2020 bis weit ins Jahr 2022 hinein virulenten Coronavirus-Pandemie sprach sich F. für Mäßigung in der Kritik an den Vorgehensweisen der westlichen Regierungen bei der Bekämpfung der neuartigen Seuche aus. Man solle den Politikern dankbar sein, "dass sie die Gesundheit aller wichtiger nehmen als das Geld", so F. (FAZ, 1.4.2020). Immer wieder geriet er jedoch ins Zentrum medialer Anfeindungen, so als er sich 2021 im Privatsender LCI missverständlich zur Inzest-Affäre um den Verfassungsrechtler Olivier Duhamel äußerte.

Nur noch in größeren Abständen folgten Buchpublikationen, so 2019 unter dem Titel "À la première personne" eine schmale Autobiographie, die 2021 in deutscher Übersetzung erschien. Seine kulturpessimistischen Einschätzungen, die er in dem Band "L’après littérature" (2021) vertiefte, wertete DIE WELT (23.11.2021) als "Fanfare gegen die Wokeness". Als Essayist und Interviewpartner war F. immer wieder gefragt, insbesondere angesichts des mörderischen Angriffs von Hamas-Terroristen auf israelische Zivilisten im Okt. 2023 und der nachfolgenden israelischen Militäroffensive in Gaza.

Familie

F. ist seit 1985 mit der Anwältin Sylvie Topaloff verheiratet und wohnt am linken Pariser Seine-Ufer. Er hat einen Sohn namens Thomas.

Werke

Veröffentlichungen u. a.: "Die neue Liebesunordnung" (77), "Das Abenteuer gleich um die Ecke" (81), "Der eingebildete Jude" (82), "Die Weisheit der Liebe" (86), "Die Niederlage des Denkens" (87), "Die vergebliche Erinnerung. Vom Verbrechen gegen die Menschheit" (89), "Verlust der Menschlichkeit" (98; Orig.: "L'Humanité perdue. Essay sur le XXe siècle", 96), "Die Undankbarkeit. Gedanken über unsere Zeit" (01), "Was zählt, kehrt wieder. Zeitdiagnostische Gespräche" (05; zus. mit Peter Sloterdijk), "Nous autres modernes" (05), "Un cœur intelligent" (09), "Et si l’amour durait" (11), "L'identité malheureuse" (13; "Die unglückliche Identität"), "La Seule Exactitude" (15), "À la première personne" (19; dt. 21, "Ich schweige nicht. Philosophische Anmerkungen zur Zeit"), "L’après littérature" (21; dt. 23, "Vom Ende der Literatur. Die neue moralische Unordnung").

2024: Alain Finkielkraut: "Revisionismus von links. Überlegungen zur Frage des Genozids". Sachbuch. Aus dem Französischen.

Literatur

Literatur: Christian Authier: "Alain Finkielkraut ou ce présent qui ne passe pas" (02).

Auszeichnungen

Auszeichnungen: Europäischer Essaypreis (84), Aujourd'hui-Sachbuchpreis (99), Ehrendoktor der Universität Tel Aviv (07), Prix de l’Essai (10), Aufnahme in die Académie Française (14).

Mitgliedschaften

Mitgliedschaften/ Ämter: F. gründete im Jahr 2000 zusammen mit Benny Lévy und Bernard-Henri Lévy in Jerusalem das "Institut d’ètudes Lévinassiennes", das sich dem Werk von Emmanuel Lévinas widmet.

Adresse

c/o Éditions Stock, 21 rue du Montparnasse, 75006 Paris Cedex, Frankreich, Tel.: +33 1 49543655, Internet: www.editions-stock.fr



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