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Clemens Meyer, 1977 geboren in Halle/Saale, wuchs in Leipzig auf. Nach dem Abitur 1996 nahm er diverse Gelegenheitsjobs an, u. a. als Bauarbeiter. 1998 bis 2003 studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, begleitet von weiteren Gelegenheitsjobs etwa als Wachmann, Möbelpacker oder Gabelstaplerfahrer. Frankfurter Poetik-Dozentur 2015, 2016 war er Mainzer Stadtschreiber, 2018/19 Stadtschreiber von Bergen-Enkheim. Heute lebt er als freischaffender Autor in Leipzig.
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Mit erstaunter Anerkennung nahm die Kritik den 2006 erschienenen Debütroman „Als wir träumten“ von Clemens Meyer auf. Hier meldete sich nicht nur ein junger Schriftsteller zu Wort, der – geschult am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig – sein Handwerk glänzend beherrschte, sondern hier wurde auch ein Sujet von „wüstem, verwüsteten Unterschichtsleben“ (Ina Hartwig) in der deutschen Nachwendezeit in Szene gesetzt, von dem man bis dahin in der Literatur so nicht gelesen hatte.
Der Roman wird nicht chronologisch erzählt. Die einzelnen Kapitel wirken wie eigene kleinere Erzählungen und handeln von einer Wehrübung in der Schule, dem Besuch eines Fußballspiels und den anschließenden Auseinandersetzungen der rivalisierenden Fangruppen, vom Aufenthalt eines der Freunde im Jugendarrest oder dem Einbruch in ein Lagerhaus. Aus den einzelnen Episoden setzt sich das Mosaik eines Lebens zusammen, das immer im Kreis enttäuschter Hoffnungen verläuft, wobei mit zunehmendem Alter die Auseinandersetzungen brutaler und die Enttäuschungen bitterer werden und die Suche nach einem bisschen Glück immer krampfhafter wird.
Zwar lautet der letzte Satz des Buches: „Wir rückten zusammen und aßen und tranken und waren glücklich“ – doch erzählt das letzte Kapitel eine Episode aus einer früheren Zeit, eben jener Zeit, als die Jugendlichen noch träumten. Der Leser aber weiß am Ende des Buches, dass dieses Glück verloren ging, dass zwei der Freunde tot sind – der eine gestorben am Heroin, der andere bei einem Crash in einem geklauten Auto – und dass Rico, der wichtigste Freund des Erzählers, immer wieder und immer länger ins Gefängnis muss. Zuletzt, am Ende des Romans und am Ende seiner Jugend, ist Danie allein. Doch so bitter die Verluste für ihn sein mögen, vielleicht liegt in dieser Verlassenheit auch eine Chance. Der Roman lässt das offen. Aber er lässt sich auch lesen als der Versuch Danies, indem er seine Geschichte erzählt, die Fesseln des Milieus abzustreifen und zu einem anderen Leben zu gelangen.
Erzähltechnisch bemerkenswert ist neben der episodischen Struktur die bisweilen kunstvolle Verknüpfung von Zeitebenen. Im Kapitel „Die großen Kämpfe“ verfolgen Danie und Rico am Fernseher den ersten Boxkampf zwischen Henry Maske und Graciano Rocchigiani im Jahr 1995. In die Beschreibung und Kommentierung des Kampfes aus der Perspektive der Jugendlichen mischt sich die Erinnerung an den einen „großen Kampf“ von Rico, den er verlor und mit dem seine Boxkarriere endete. Die Spiegelung beider Kämpfe erklärt die Verbissenheit, mit der Rico den Boxkampf verfolgt und dem Underdog Rocchigiani, in dem Rico sich selbst sieht, den Sieg wünscht. Das Kapitel erhält durch die Dynamik der Kämpfe, den steten Wechsel der Erzählebenen und die emotionale Anspannung Ricos eine atemlose Intensität.
Ein anderer erzählerischer Kunstgriff besteht darin, dass Danie manchmal etwas erzählt, um es gleich darauf als nur ausgedacht zurückzunehmen. Vom Selbstmord der Mutter eines Schulkameraden nach deren Entlassung aus einem DDR-Betrieb heißt es zwei Sätze später: „Das mit der Mutter des Jungen stimmt nicht.“ Der Leser muss auf der Hut sein, was die Glaubwürdigkeit der erzählten Unglaublichkeiten betrifft. Aber auch wenn es nicht stimmen sollte, was da erzählt wird, es könnte doch alles so gewesen sein. So erweitert sich der Erzählraum, dessen Figuren man als „Zeitfiguren“ (Eberhard Falcke) bezeichnen kann, und macht den Roman anstatt zu einer Kolportage von Episoden aus dem Leben eines Jugendlichen zu einem Kommentar der Lebensverhältnisse am unteren Ende der Gesellschaft.
In einigen der 15 Erzählungen wendet Meyer ein Erzählprinzip an, das er schon in seinem Debütroman erprobt hatte: die Verwebung von Zeit- oder Handlungsebenen, entweder von Gegenwart und Erinnerung oder von tatsächlichem und nur gedachtem Handeln. Weil beides jeweils im Präsens erzählt wird, erkennt der Leser erst mit kurzer Verzögerung den Ebenenwechsel. Das Erinnerte wird so ebenso zu einer gegenwärtigen Erfahrung wie das nur Gedachte.
Die Texte erzählen von prekären Lebensumständen und zerstörten Existenzen. Nur selten blitzt in ihnen eine Zartheit auf, die dann im Kontext des Erzählten geradezu leuchtet und von berührender Traurigkeit erfüllt ist. In allen Fällen lotet Meyer die existenziellen Bedingungen seiner Figuren aus, woraus die Erzählungen ihre Intensität gewinnen, wenn auch nicht alle Texte, wie von der Kritik verschiedentlich bemerkt wurde, von gleicher Dichte und Qualität sind.
Der folgende Band „Gewalten. Ein Tagebuch“ (2010) entstand im Rahmen der TAGEWERK-Reihe der Rinke-Stiftung. Der Gattung „Tagebuch“ gehört er jedoch nicht an, vielmehr werden elf Erzählungen in chronologischer Folge über das Jahr 2009 verteilt. Der Verweis auf das Tagebuch legt aber die Vermutung nahe, dass die Geschichten eine große erlebte Nähe zum Autor selbst aufweisen, der zu dem Buch sagt: „Es ist aus meiner persönlichen Sicht auf die Dinge entstanden, die für mich im Jahr 2009 wichtig gewesen sind.“ Zu diesen Dingen gehören eine Nacht in der Zelle einer psychiatrischen Anstalt ebenso wie das Sterben eines Freundes, der Amoklauf eines Schülers in Winnenden oder der Prozess gegen den Mörder eines achtjährigen Mädchens in Leipzig. Alle Texte sind in der ersten Person erzählt, in einigen wird das Ich direkt als „Clemens Meyer“ angesprochen. Einige Motive aus den vorherigen Büchern kehren auch in diesem Band wieder – Pferderennen, Gefängnis, Bordell, Alkohol und die titelgebende Gewalt.
Das Spektrum der Erzählweisen ist breit. Es gibt Texte, in denen Gegenwart, Erinnerungen und Assoziationen miteinander verwoben werden (z. B. in der Titelerzählung „Gewalten“ und in „In den Strömen“), wie es Meyer schon zuvor praktiziert hatte. Eine dynamische, schnelle Schnittfolge besticht in „Im Bernstein“, in dem der Erzähler ein Drehbuch zum Thema Guantánamo entwickelt, während in den Erzählungen „Auf der Suche nach dem sächsischen Bergland“ oder „Draußen vor der Tür“ eine berührend zarte Intensität aufscheint, wenn sich das Ich eines verstorbenen Freundes erinnert oder vom Sterben seines Hundes erzählt. Der Amoklauf eines Schülers in Winnenden steht hinter der Erzählung „German Amok“, in der das Ich beschreibt, wie es das gleichnamige Computerspiel spielt, in dem es darum geht, ein Massaker an einer Schule anzurichten, dafür möglichst viel Aggressionspotenzial zu sammeln und einen hohen „body count“ zu erzielen. Im Laufe der Erzählung schafft es der Spieler nicht, das Blutbad anzurichten, aber der Leser weiß, dass der Spieler weiter trainieren wird. Die beängstigende Intensität bezieht dieser Text aus der Mischung der drastischen Handlung, eines abgebrühten Jugendjargons, der die Drastik ständig herunterspielt, und der Assoziation und Angst des Lesers, dass aus dem Spiel einmal Wirklichkeit werden könnte und in gewisser Weise zum Beispiel in Winnenden auch bereits Wirklichkeit wurde.
Den Versuch einer Einfühlung in die Psyche eines Mörders stellt „Der Fall M.“ dar, der im Titel auf den Film „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ von
Meyer spielt in den Texten viel mit Zitaten, Verweisen und Anspielungen. Film- und Songtitel werden in die Geschichten eingestreut, was jedoch nicht immer überzeugt. „Wozu diese dauernden Rückversicherungen bei literarischen oder auch filmischen Traditionen?“, fragte etwa Richard Kämmerlings. Von der Kritik gelobt wurden aber der Realitätsgehalt der Erzählungen und die Kraft der Bilder. „Epische Feuergefechte“ nennt Jürgen Verdofsky die Texte, „unerschrocken, unerbittlich, illusionslos erzählt“.
Ein „Pandämonium der ostdeutschen Nachwendezeit“ nannte Ronald Düker den Roman „Im Stein“ von 2013, für den Clemens Meyer den Bremer Literaturpreis bekommen hat. Meyer bleibt thematisch in Ostdeutschland, in einem „Hybrid aus Leipzig und Halle an der Saale“, entwickelt aber diesmal weniger die Schicksale seiner Bewohner – der Ehrgeiz des Romans ist vielmehr, von den verwickelten Machtbeziehungen der Unterwelt(en), den grauen Zonen jenseits des Gesetzes, zu erzählen. Die Unterwelt, die Meyer wählt, ist im Grunde keine – Prostitution, das älteste Gewerbe der Welt, bewegt sich seit 2002, als das deutsche Prostitutionsgesetz verabschiedet wurde, diesseits der Legalität. Der Roman reicht aber zeitlich in die Transformationsphase der 1990er zurück, so bietet das Sex-Business reichlich Stoff für eine Erkundung, vor allem weil die Schattenwelt und die Legalität miteinander eng verwoben sind; außerdem hat das Sex-Business Berührungspunkte mit anderen Giganten der freien Wirtschaft, vor allem mit der am Osten interessierten Immobilienbranche. Deswegen changiert der Autor, mit seinem sicheren Gespür für prekäre Übergangslagen (siehe: „Als wir träumten“), zwischen den Erzähl- und Zeitebenen – so wird ein Pendant zur Treuhand im Rotlichtmilieu in seinem Walten beleuchtet. „Im Stein“ lernt der Osten vom Westen – nicht die Regeln der Prostitution, aber die Regeln des Marktes; so heißt der Boss und die Autoritätsfigur für die Ostdeutschen Arnie und Hans „der Bielefelder“, auch „Graf“ genannt, der nach der Wende den Markt auch in den neuen Bundesländern erschließt.
„Im Stein“ wäre kein Clemens-Meyer-Roman, wenn sich der Plot auf die ökonomischen Aspekte beschränken würde – sie erscheinen nur interessant, weil sie Figuren betreffen, die reale Ängste, Bedürfnisse und Wünsche haben. Die Bosse sind demzufolge nicht bloß geldgesteuerte Zyniker; Meyer verleiht ihnen Züge, die man an Mafiosi aus alten Filmen bewunderte – sie haben eine Größe. Die Prostituierten bekommen eine Aufmerksamkeit, die man fast als zärtlich bezeichnen möchte – ohne sie zu romantisieren bzw. zu dämonisieren entwickelt der Roman eine Vielfalt von flüchtigen Porträts, wo Nuancen der individualisierten Rede genauso wie Details zur Körperpflege beachtet werden. In dunklen und mal auch hell ausleuchtenden Jargon-Passagen des Romans, in denen Daniela Strigl wegen ihrer Musikalität und einer mythischen Schicht eine Nähe zum „Passionsspiel“ sieht, lassen sich einige von Meyers literarischen Bezugsfiguren erkennen:
Ebenfalls 2013 erschien „Rückkehr in die Nacht“, eine Erzählung mit Bildern des Leipziger Grafikers und Illustrators Phillip Janta, die Andreas Platthaus als „meisterlich“ lobte. Wie in den Bildern, in denen alle Schattierungen des Grau zu studieren sind, bestimmen Orte die Stimmung des Textes – es sind leere, dem Lauf der Zeit überlassene Felder, Straßen, Höfe. In diese „Wüste der Vorstadt“ kehrt ein Ich-Erzähler zurück, besucht einen Bekannten von früher, und damit seine eigene Vergangenheit, die ihm „fast nicht mehr wahr“ erscheint. Wie so häufig bei Meyer wechseln sich die Gegenwart und die Vergangenheit ab, sodass das Erinnerte sehr präsent erscheint, aufgehoben in einem Jetzt des herumstreunenden Erzählers und dem Stillstand der verlassenen Orte. Zum Katalysator der Erinnerungen wird ein Schiff, oder wie sein Besitzer korrigiert, „eine Yacht“ – die Quintessenz eines Wunschtraums und die Spur einer Wunscherfüllung, die den Traum vom Meer wachruft und dennoch nur für kurze Augenblicke dem Ich-Erzähler einen sicheren Hafen bedeutet. Denn die meisten Erinnerungen sind düster und beunruhigend wie die Landschaft – da ist ein Bruder, der „mit den Kiffern“ Meth kocht bis der Keller samt der Freundin des Erzählers explodiert, da steht ein NPD-Stammlokal mit dazugehörigen gewalttätigen jungen Männern, die Kriminalpolizei hämmert wegen kleiner vergessener Delikte an die Tür. Wenn hier und da hellere nostalgische Töne anklingen – etwa wenn der Besitzer des Schiffes durch Zufall an den alten Golf von Margot Honecker gerät, „sein großer Coup“, wenn sich der Erzähler an den Lieblingsduft seiner Kindheit (Benzin) erinnert –, nehmen sie dem Ort nur kurz seine Trostlosigkeit weg. „Es gibt nicht viele Möglichkeiten, von hier zu verschwinden“, heißt es an einer Stelle, und obwohl immer wieder von Verschwinden die Rede ist (der Vater des Erzählers, ein Laden, ein Freund aus der Kindheit verschwinden), scheint die Unmöglichkeit des Entkommens gerade in der düsteren Leere des Viertels zu liegen.
Im Juni 2015 hielt Clemens Meyer fünf Poetikvorlesungen an der Frankfurter Goethe-Universität, vier davon sind als „Der Untergang der Äkschn GmbH“ ein Jahr später erschienen. Die Erwartungen waren groß, hatte Meyer doch im Vorfeld versprochen: „Wir werden hier Elfenbeintürme einreißen, aber auch in dem Wissen, dass wir aus ihnen heraus sprechen.“ „Der Untergang der Äkschn GmbH“ ist ein passioniertes Projekt, weil der Autor Meyer dort seine Passionen durchdekliniert, stellenweise gar: hinausposaunt, und sie gelten 1. der Literatur, 2. dem Actionfilm und 3. den Mythen, aus denen sich die beiden Passionen speisen. Viel Aufmerksamkeit widmet Meyer der Literatur der DDR – Erich Loest wird oft genannt, KuBa am Rande, Wolfgang Hilbig –, der Meyer eine poetische Kraft attestiert, die heute (noch) nicht richtig geschätzt wird. Nicht weniger wichtig ist Literatur aus Amerika –
Konsequent ist, dass die Passionen nicht nur den Inhalt der Vorlesungen bestimmen – der Duktus der poetologischen Rede (die Dynamik des Gesprochenen ist sehr deutlich zu vernehmen) hat kaum etwas von der Ausgewogenheit einer Poetikvorlesung. Im Gegenteil, die meisten Passagen handeln nicht nur über die Poetik Meyers, sondern sind diese Poetik. „Cut-up, Montage, Fakt-vs.-Fiktion, Fakt-incl.-Fiktion (und umgekehrt) sind seine Arbeitsfelder“, wie Mario Osterland in einer Rezension schreibt. Explizit heißt es im Buch: „Die ÄKSCHN GMBH sagt: ‚Wozu Übergänge, wennʼs auch mitʼm HOLZHÄMMER geht …‘.“
Die DDR ist ein großes Thema, nicht aber als ein Fehlsystem voller Inkongruenzen, Widersprüche und, ja auch, Gewalt, sondern als ein Kulturland mit Autorinnen und Autoren wie
Einiges, was in den Poetikvorlesungen angeklungen ist, findet sich in „Zwei Himmelhunde. Irre Filme die man besser liest“ (2016) wieder. Das Format folgt einem simplen Konzept – Meyer und sein Mitstreiter
Im Erzählband „Die stillen Trabanten“ von 2017 erkennt man wiederum kaum eine Spur von Meyers Schwäche für Trash, vielmehr kehrt der aufmerksame Stilist von „Rückkehr in die Nacht“ und „Die Nacht, die Lichter“ zurück. Das Buch hat drei Teile, die jeweils mit schlichten „Miniaturen“ (Andreas Platthaus) eingeleitet werden – es sind Stimmungsbilder, in denen in wenigen Sätzen kleine Szenen geschildert werden, die von keiner Erzählstimme kommentiert werden. Eine ähnliche Zurückgezogenheit der Erzählinstanz kennzeichnet alle Texte des Bandes, die thematisch teilweise das bereits bekannte Spektrum Meyers abdecken – das „Früher“ und das „Jetzt“ ostdeutscher Städte und ihrer Bewohner, narrativ zersplittert durch die Wechsel der Zeitebenen. Zwischen Früher und Jetzt changierend, verliert Meyers Realismus an Bodenständigkeit, gewinnt an Poetizität und so auch an Mehrdeutigkeit. Es gibt in „Die stillen Trabanten“ Figuren, die, durch einen Zwischenfall aus ihrer vertrauten Welt hinausgeschleudert, sich nicht mehr zurechtfinden („Der Spalt“, „Die Entfernung“). Es gibt Figuren, die, treu dem Meyer‘schen Lieblingstopos, an vertraute Orte zurückkommen, ohne zurückzufinden („Die Rückkehr der Argonauten“, „Die letzte Fahrt der Straßenbahn“). Es gibt schließlich welche, die an ihren vertrauten Orten – einem Bahnhof („Späte Ankunft“), einer alten russischen Kaserne („Glasscherben im Objekt 95“), einem Imbiss („Die stillen Trabanten“) – Momente zwischenmenschlicher Nähe erleben, die Meyer mit einer zärtlichen Behutsamkeit, mit „Sanftheit und Empathie“ (Wiebke Poromobka) schildert. Einen bemerkenswerten Schlussakzent setzt die letzte Erzählung „In unserer Zeit“, die thematisch an den, wie es scheint, wunden Punkt in Meyers Poetikvorlesungen anknüpft, nämlich an die Gespaltenheit der DDR-Schriftsteller. Willi Bredel sitzt in Moskau in der Lenin-Bibliothek an einem Text über den legendären Seeräuber Störtebeker; in einer anderen Zeitebene sitzt Bredel mit russischen Soldaten am Feuer an der Front und „wärmt“ sie mit seiner Vision des Störtebeker, der bei ihm „ein Revolutionär, ein junger Kämpfer“ ist. Zwischen Traum, Vision und Erinnerung aufgehoben tauchen Becher, Kurella, Ulbricht auf – ihre Stimmen deuten die Komplexität der Spaltung zwischen ideologischer Korrektheit und schriftstellerischer Vision an. In einer akustischen Montage verdichtet Meyer die Aporien einer progressiven revolutionären Literatur unter den Vorzeichen der DDR-Diktatur, die er schon in den Frankfurter Poetikvorlesungen angesprochen hat.
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