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Wissen, das zählt.


KLfG

Fedor Aleksandrovič Abramov

Geburtstag: 29. Februar 1920
Todestag: 14. Mai 1983
Nation: Russland

von Dietrich Wörn



Fedor Aleksandrovič Abramov - Biogramm

Fedor Aleksandrovič Abramov, geboren am 29. 2. 1920 in Verkola (200km südöstlich von Archangel'sk) in einer Bauernfamilie. Sein Studium der Philologie von 1938 bis 1948 in Leningrad wurde durch Kriegsdienst mit zweimaliger schwerer Verwundung unterbrochen. 1944 wurde Abramov Mitglied der KPdSU. 1954 löste seine Abrechnung mit der Dorf-Literatur der Stalin-Zeit einen Sturm der Entrüstung im literarischen Establishment aus. Trotzdem wurde Abramov nach seiner Habilitation über M.Šolochov 1955 Professor für Sowjetliteratur an der Universität Leningrad. Nach dem Erfolg seines Erstlingsromans “Brüder und Schwestern” (1958) gab er 1960 seinen Lehrstuhl auf und widmete sich ganz der Schriftstellerei. 1963 prangerte er die wirtschaftliche und rechtliche Diskriminierung der Landbevölkerung an, was zu seinem Ausschluß aus der Redaktion der Zeitschrift “Neva” und zu anderen Repressionen führte. In der Folgezeit erweiterte Abramov seinen ersten Roman zunächst zur Trilogie “Die Prjaslins” und mit dem Roman “Das Haus” (1978/1979) zur Tetralogie, die nach dem ersten Teil den Gesamttitel “Brüder und Schwestern” erhielt. Daneben schrieb Abramov mehrere Kurzromane (povesti) und Erzählungen. Sein literarisches Werk, aber auch die publizistischen und literaturkritischen Stellungnahmen, machten ihn zu einem der profiliertesten Vertreter der sogenannten “Dorfprosa”. Abramov starb am 14. 5. 1983 in Leningrad. – Die Nachrufe bezeugten das große Ansehen Abramovs, der den Ruf eines absolut integren Menschen genoß, und dessen Prosawerk in der russischen Gegenwartsliteratur einen bedeutenden Rang einnimmt. Viele seiner Werke wurden in der Sowjetunion verfilmt, im Fernsehen und im Theater gezeigt. Die Romane und Erzählungen wurden innerhalb und außerhalb der Sowjetunion in mehrere Fremdsprachen übersetzt. – In den gegenwärtigen Diskussionen über die Politik der “perestrojka” gelten die Persönlichkeit sowie das publizistische und literarische Werk F.Abramovs als wegweisend für eine grundlegende Änderung der politischen und ökonomischen Strukturen und des sozialen Klimas.

Fedor Aleksandrovič Abramov - Preise

Auszeichnungen: Staatspreis der UdSSR für die Trilogie “Die Prjaslins” (1975).

Fedor Aleksandrovič Abramov - Essay

Im Schaffen Fedor Abramovs nimmt die engagierte Publizistik einen wichtigen Platz ein. Sein Aufsatz “Ljudi kolchoznoj derevni v poslevoennoj proze” (Die Menschen des Kolchos-Dorfes in der Nachkriegsprosa), der im April 1954 in der angesehenen Zeitschrift “Novyj mir” (Die neue Welt) erschien, war ein polemischer, aber fundierter Angriff des Literaturwissenschaftlers Abramov auf die stereotype Schönfärberei der Dorfromane in der Nachkriegszeit (S.P. Babaevskij, E.Mal'cev, G.A. Medynskij, G.E. Nikolaeva u. a.). Abramov kritisierte, daß die schwierigen sozialen Probleme der Kolchos-Wirtschaft in diesen Romanen weitgehend verheimlicht und die harten Lebensbedingungen auf dem Land entgegen jeder Wahrheit in rosaroter Idyllisierung dargestellt würden. Neben dem Artikel “Ob iskrennosti v literature” (Über die Aufrichtigkeit in der Literatur) von V.Pomerancev, der im Dezember 1953 ebenfalls im “Novyj mir” erschienen war, und neben den Skizzen V.Ovečkins über das Leben in der Kolchose (“Rajonnye budni”, Rayonalltag, 1952–1956; “Očerki o kolchoznoj žizni”, Skizzen über das Leben in der Kolchose, 1953–1954) war der Aufsatz Abramovs die entschiedenste Absage an die offizielle Theorie der Konfliktlosigkeit im Bereich der Dorfliteratur. Die Vorwürfe und Argumente Abramovs wurden von einigen Diskussionsrednern auf dem Zweiten sowjetischen Schriftstellerkongreß (Dezember 1954 in Moskau) aufgegriffen, auf dem auch Ovečkin eine scharfe Attacke gegen den Verlust an Realitätssinn und gegen die Karrieresucht bei vielen Sowjetliteraten ritt.

Die Redaktion von “Novyj mir” wurde wegen der Veröffentlichung der Artikel Pomerancevs, Abramovs und anderer liberaler Kritiker scharf gerügt, und im Oktober 1954 wurde A.Tvardovskij, den Abramov sehr schätzte, als Chefredakteur abgelöst. Der inkriminierte Aufsatz Abramovs wurde in späteren Werkausgaben nicht mehr nachgedruckt.

Erneut geriet Abramov 1963 ins Feuer der orthodoxen Kritik, als in der Leningrader Zeitschrift “Neva” die Erzählung “Ein Tag im Neuen Leben” (“Vokrug da okolo”, wörtlich: Wie die Katze um den heißen Brei) erschien.

Der Kolchosvorsitzende Mysovskij erhält vom Parteisekretär des Bezirkskomitees in mehreren Telefonanrufen den Befehl, gemäß dem Plan auf der Kolchose das Silofutter einzubringen. Für die Bauern der Kolchose ist es aber lebenswichtig, daß sie zuerst die Heuernte sichern und das bereits gemähte Heu nicht im Regen verfaulen lassen. Mysovskij, der das Anliegen der Bauern für berechtigt hält, versucht auf einem Rundgang genügend Arbeitskräfte aufzutreiben. Es gelingt den Kolchosbauern schließlich, Heu und Silofutter einzufahren, aber erst nachdem ihnen der Kolchosvorsitzende einen wesentlich höheren Gewinnanteil zugesagt hat. Auf seinem Rundgang begegnet Mysovskij all den ungelösten Problemen der Kolchos-Wirtschaft. Der Plan des Bezirkskomitees widerspricht jeder ökonomischen Vernunft; deshalb sind selbst gutwillige Bauern arbeitsscheu. Die Bezahlung und Versorgung der Kolchosbauern ist völlig unzureichend; die jungen Leute versuchen mit allen Mitteln, die Kolchose zu verlassen. Die Abgaben an den Staat sind so hoch, daß für die Ernährung selbst der Kinder nicht einmal das Notwendigste übrigbleibt. Durch die Verweigerung von Pässen versucht die Staatsmacht, die Bauern an die Scholle zu binden; diese schikanöse Einschränkung der Freizügigkeit im eigenen Land, die der Leibeigenschaft im zaristischen Rußland entspricht, wird oft mit korrupten Methoden umgangen. Die Folge der Mißwirtschaft ist neben Arbeitsunlust und Lethargie, Landflucht und Korruption auch die drastische Schrumpfung der Anbaufläche. Mysovskij nimmt für die Bauern Partei. Abramov läßt aber keinen Zweifel daran bestehen, daß ein solches Verhalten überaus riskant und die Ausnahme ist.

Wegen dieser schonungslos offenen und künstlerisch eindrucksvollen Kritik am System der Kolchos-Wirtschaft wurde Abramov aus der Redaktion der “Neva” ausgeschlossen, obwohl diese Zeitschrift in den Jahren zuvor eine Reihe seiner Werke veröffentlicht hatte. Doch er ließ sich von den zum Teil diffamierenden Angriffen nicht davon abbringen, auch als inzwischen erfolgreicher Romancier auf überaus kritische und kenntnisreiche Weise zu den bedrängenden Fragen der landwirtschaftlichen Lebens- und Arbeitsformen Stellung zu beziehen.

Ende der siebziger Jahre äußerte er sich wiederholt zu den organisatorischen, technologischen und ökologischen Problemen der Agrarwirtschaft in Nordrußland. Dabei brandmarkte er erneut die unzulängliche Arbeitsmoral, besonders aber die systeminternen Gründe für die Mißwirtschaft.

In dem ausführlichen und gut dokumentierten Bericht “Pašnja živaja i mertvaja” (Lebender und toter Acker, 1978; verfaßt in Zusammenarbeit mit A.Čistjakov) zeigt Abramov, daß sich der Raubbau an ehedem fruchtbarem Wiesenland, der in den Jahren nach dem Krieg große Landflächen vernichtet hatte, auch durch die riesigen Geldaufwendungen und Anstrengungen für den Wiederaufbau der nordrussischen Nichtschwarzerdeböden nicht hat eindämmen lassen. Immer noch ruinieren der falsche Einsatz zu schwerer Maschinen, eine falsche Fruchtfolge und falsche Tierhaltung die Böden, die einer besonderen, in Jahrhunderten entwickelten Pflege bedürfen. Die Vernichtung riesiger Fruchtflächen geht einher mit einer andauernden Landflucht, die zur Entvölkerung und Aufgabe Dutzender von Dörfern geführt hat. Die Verbesserungsmaßnahmen erstrecken sich bislang nur auf die Gebiete in der Nähe der Städte, nicht auf die entlegeneren Regionen.

Im Sommer 1979 wandte sich Abramov in einem offenen Brief (“Čem živem-kormimsja”, Wovon wir leben und uns nähren) an seine Landsleute in der nordrussischen Heimat, insbesondere an die Bewohner seines Heimatdorfes Verkola an der Pinega, das er unter dem Namen “Pekašino” in seinen Romanen verewigt hat.

Auch hier weist Abramov auf zahlreiche organisatorische Mängel, auf Fehler in der Planung und Wirtschaftsführung und auf die verheerenden Folgen des Einsatzes schwerer Maschinen für die dünne und anfällige Bodenkrume hin. An die Stelle des früheren mühsamen, aber pfleglichen Umgangs mit dem Land sind Gleichgültigkeit und Schlamperei getreten. Anstatt wie in früheren Jahrhunderten Überschüsse an Heu und Vieh zu erwirtschaften, sind die Bauern der heutigen Sowchosen parasitäre Staatspensionäre.

Es zeugt vom Ansehen des Schriftstellers Abramov, daß sein offener Brief in der “Pravda” und in anderen Zeitungen abgedruckt wurde. Nach den Aussagen Abramovs in einem Interview war die Reaktion der direkt angesprochenen Landsleute positiv; sie beklagten allenfalls, daß Abramov seine Kritik noch zu rücksichtsvoll vorgetragen habe.

Als Publizist knüpfte Abramov an die Tradition der russischen “Očerk”-Literatur an (“očerk” = ,Skizze, Essay, Reportage’; “očerkist” = ,Essayist’). Seit Turgenevs “Aufzeichnungen eines Jägers” (1852) hat sich in der russischen Literatur der “očerk” als Gattung im Übergangsbereich von soziologischer Dokumentation und künstlerischer Erzählprosa etabliert. Große aktuelle Bedeutung für die sowjetische Gegenwartsliteratur erlangte diese sehr flexible literarische Form in der Zeit des ,Tauwetters’ (von 1953 bis Mitte der sechziger Jahre). Die “Očerk”-Literatur über das russische Dorf (V.Ovečkin, s.o.; E.Doroš, “Derevenskij dnevnik”, Dorftagebuch, 1963; G.Troepol'skij, “O rekach, počvach i pročem”, Über Flüsse, Fluren und anderes, 1965 u. a.) spielte laut Abramov eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Gegenwartsliteratur, denn die “Očerkisten” bahnten der künstlerischen Prosa den Weg zu mehr Ehrlichkeit, Wahrheit und Faktentreue.

Diese zeitgenössischen literarischen Einflüsse, zu denen sich die intensive Beschäftigung mit der großen realistischen Literatur Westeuropas (Stendhal, Balzac) und Rußlands (Turgenev, Tolstoj, vor allem aber Puškin und Šolochov) gesellte, halfen Abramov dabei, seine eigenen und sehr persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen zu klären und literarisch zu verarbeiten. Entscheidend für den Werdegang Abramovs war neben der Erinnerung an seine entbehrungsreiche Kindheit als Halbwaise und Oberhaupt der Familie nach dem Tod des Vaters die Rückkehr als Verwundeter in sein Heimatdorf im Kriegssommer 1942. Nicht an der Front, ja nicht einmal im eingeschlossenen Leningrad, aus dem er in letztem Augenblick evakuiert wurde, sondern hier im heimatlichen Dorf begegnete er der härtesten Bewährungsprobe für die russische Bevölkerung. “Die Heldentaten der russischen Frau, die 1941 eine zweite Front eröffnete, die nicht weniger wichtig und schwer war als die Kriegsfront des russischen Bauern”, bewogen ihn zum Schreiben. Da er sich schon zu alt fühlte, um mit Kurzprosa seine literarische Karriere zu beginnen, versuchte er sich sofort und mit großem Erfolg am Roman. Er schrieb sieben Jahre an seinem Erstlingswerk “Brüder und Schwestern”, das 1958 in der “Neva” und im Jahr darauf in Buchform erschien. Erst fünfzehn Jahre später war mit dem Roman “Wege und Kreuzwege” (1973) die Roman-Trilogie “Prjasliny” (Die Prjaslins) vorläufig abgeschlossen. Sie umfaßt Ereignisse der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit. Der vierte Roman “Das Haus” (1979) schildert die Zustände in Pekašino in den Jahren 1971/72 und gibt damit eine Bewertung der zentralen Ereignisse und Figuren der früheren Romane aus der Perspektive der Gegenwart.

Es ist kaum möglich, auf knappem Raum von der Fülle der Figuren, Ereignisse und Konflikte, die Abramov in seinen vier Romanen vor dem Leser entfaltet, einen angemessenen Eindruck zu vermitteln.

In “Brüder und Schwestern” schildert Abramov das Leben im kleinen nordrussischen Dorf Pekašino vom Frühjahr bis zum Spätsommer 1942. Die Männer sind im Krieg. Von der Front kommen nur Todesnachrichten. Auch Ivan Prjaslin fällt und hinterläßt seine Frau Anna mit sechs Kindern. Der älteste Sohn Michail, die männliche Hauptfigur der späteren Romane, wächst mit vierzehn Jahren in die Rolle des Familienoberhaupts hinein und wird mit seinem Fleiß und seiner Geradlinigkeit zur Stütze der Kolchose. Die Schwester Liza ist fast überfordert durch die Last der Arbeit und Verantwortung, die sie der schwachen Mutter abnimmt. Liza wird im Verlauf der weiteren Romanhandlung zur großen weiblichen Heldin, die schwer unter ihrer unglücklichen Ehe mit dem leichtsinnigen Schuft Jegor zu leiden hat und von ihrem Bruder Michail wegen einer Verfehlung aus der Familie verstoßen wird. Als Nachfolgerin des Parteimenschen Lichačev, dem die nötigen landwirtschaftlichen Kenntnisse und das Gespür für die Bedürfnisse der Bäuerinnen fehlen, wird die einfache Dorfbäuerin Anfisa Minina zur Kolchosvorsitzenden gewählt. Der gute Geist der Kolchose ist der verwundete Frontsoldat Ivan Lukašin, der seine Familie durch den Einmarsch der Deutschen verloren hat und als Beauftragter der Partei in Pekašino nach dem Rechten sehen soll. Ihn verbindet eine tiefe Zuneigung zu der tüchtigen und schüchternen Anfisa.
Überhaupt spielen die spannungsreichen Beziehungen der Geschlechter zueinander im Roman eine große Rolle. Ohne Sentimentalität, eher mit einer für die Sowjetliteratur ungewöhnlichen Direktheit und Natürlichkeit schildert Abramov die Liebesprobleme der jungen männerlosen Frauen, etwa der sinnlichen Varvara, die aus Leichtsinn die Liebe zwischen Anfisa und Lukašin fast zerstört. Er zeigt die ersten Liebeserfahrungen des schüchternen Michail, dessen Eltern ein viel zu kurzes Eheglück hatten, die unglückliche Ehe der Anfisa mit dem brutalen Grigorij, der später seine Frau um Verzeihung bitten wird, die Liebe der beiden alten Stavrovs, des unverwüstlichen Arbeiters Stepan und seiner leidenden Frau, die ihren Sohn im Krieg verloren haben und erleben müssen, wie der Enkel Jegor moralisch verkommt.
Das ganze Leben wird überschattet von der unmenschlich harten Arbeit. Anstelle der Männer müssen die Frauen, Kinder und Greise auf dem Feld und in den Wäldern Schwerstarbeit bei kärglichster Versorgung leisten. Naturkatastrophen wie ein sommerlicher Kälteeinbruch, Dürre mit Feuersbrünsten und eine Flutkatastrophe im Nachbardorf bringen die Menschen fast um die Früchte ihrer Schufterei. Aus Mangel selbst an Brot und Milch wird Anna Prjaslina zur Diebin. Im Dorf muß das Vieh notgeschlachtet werden. Mitschuldig an der Misere sind die staatlichen Behörden und Parteigremien. Nach Lichačev kümmern sich mehrere andere Parteifunktionäre um die Land- und Forstwirtschaft in Pekašino, etwa der vitale und harte Podrezov oder der pünktliche Netesov, der den Spitznamen “der Deutsche” trägt. Keiner wird den wirklichen Anforderungen gerecht. Auch Korruption und Intrigantentum werden von Abramov nicht verschwiegen. Und die großen Verdienste der Anfisa werden nicht nur von der Partei, sondern sogar von Michail Prjaslin bald vergessen. Die Kriegsereignisse, vor allem die Sommeroffensive der Deutschen und der Vorstoß über die Wolga, werden aus der Sicht des Dorfes mit Unverständnis und Unmut über das russische Zurückweichen, aber auch mit wachsendem Willen zum Durchhalten wahrgenommen.
Der zweite Teil des Romanzyklus, “Zwei Winter und drei Sommer” (1968), setzt im Frühjahr 1945 ein. Der Krieg ist zu Ende. Die Menschen erwarten das gute neue Leben, mit dem man sie in den Kriegsjahren geködert hat. Aber die Lage wird für die Kolchose fast noch schlimmer. Der neue Kolchosvorsitzende Peršin treibt selbst alte Frauen zum Waldeinsatz. Die Landwirtschaft kommt darüber zu kurz. Außerdem wächst die Last der Steuerabgaben. Michail Prjaslin, bisher eine Stütze der Kolchose, wird Waldarbeiter. Sogar seine Schwester Liza hilft im Winter bei den Arbeiten im Wald. Sie heiratet den Leichtfuß Jegor, den Enkel der Stavrovs, dessen Jugendfreundschaft mit Michail in die Brüche geht. Lukašin kehrt zurück und heiratet Anfisa, die im Undank als Kolchosvorsitzende abgesetzt wird. In die Haupthandlung sind die Schicksale der Nebenpersonen eingeflochten. Da ist der kranke Timofej, den alle verachten und für einen Simulanten halten, weil er in deutscher Kriegsgefangenschaft war; erst als er an einer Krebsoperation stirbt, erkennt man, was man an ihm verloren hat. Da ist der alte, gütige Jevsej Moškin, der als Altgläubiger zu Unrecht fünfzehn Jahre in sibirischer Haft und Verbannung war und nicht einmal mehr die beiden Söhne sehen kann, die für das Vaterland fielen.
Insgesamt entfaltet Abramov ein Panorama der problematischen Erscheinungen der ersten Nachkriegsjahre. Deutlich spricht er den stalinistischen Terror und die schreckliche Behandlung der kriegsgefangenen Russen an, die nach ihrer Rückkehr aus Deutschland in ihrer Heimat als politische Verbrecher diffamiert wurden. Der Einpeitscher Podrezov, der nicht ohne eine gewisse menschliche Sympathie dargestellt ist, symbolisiert den harten Aktivismus dieser Jahre unmittelbar nach Kriegsende.
Der dritte Teil des Romanzyklus, “Wege und Kreuzwege” (1973), zeigt die Zustände in Pekašino im Jahre 1951. Seit fünf Jahren leben Anfisa und Lukašin zusammen. Sie haben einen kleinen Sohn. Die Ehe Lizas mit Jegor hat nur zwei Wochen gedauert. Der Leichtfuß Jegor ist verschwunden, und Liza muß den krank gewordenen alten Opa Stavrov versorgen. Dieser vermacht sein Haus der aufopferungsvollen jungen Frau. Sechs Jahre nach Kriegsende herrschen noch immer Hunger, Not und Schwerstarbeit. Das soziale Klima ist schlecht, die politische Lage voller Unsicherheit. Lukašin wird inhaftiert, weil er verantworten muß, daß sich die hungernden Bauern eine Sonderration Getreide illegal genommen haben. Der Schuft Jegor spielt sich als Vertreter der Parteimoral auf und versucht, seinen ehemaligen Jugendfreund und jetzigen Feind Michail in die Affäre hineinzuziehen. Doch nach schwerem innerem Kampf bezieht Michail Stellung. Er verfaßt im Wissen um die eigene Gefährdung einen Brief an das Bezirkskomitee, der Lukašin entlasten soll. Doch nur wenige Einwohner unterschreiben den Brief. Im Roman finden sich Anspielungen auf innenpolitische Ereignisse und Entwicklungen, etwa auf die Kampagne gegen den Kosmopolitismus (1949) oder auf Stalins Briefe zu “Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft” (1950). Dabei zeigt Abramov meisterhaft, wie die einfachen Bauern auf die große Politik reagieren. Die bedrückende Atmosphäre der letzten Jahre des stalinistischen Terrors kommt auch im offenen Schluß des Romans zum Ausdruck. Man muß für Lukašin und Michail das Schlimmste befürchten. Dieser offene Schluß wurde in der sowjetischen Kritik bemängelt. Er entspricht aber dem Titel des Romans und der Gesamtintention des Autors. Rußland war Anfang der fünfziger Jahre in der Tat an einem Kreuzweg angelangt, und es war völlig offen, in welche Richtung die politische und soziale Entwicklung gehen würde.
Aufschluß über die Schicksale der Romanfiguren gibt der vierte Teil der Tetralogie mit dem symbolischen Titel “Das Haus” (1978/79). Die Handlung spielt in den Jahren 1971/72 und setzt mit dem zeitlichen Abstand von zwanzig Jahren auch neue psychologische und sozialkritische Akzente.
Lukašin ist nach Stalins Tod amnestiert worden, wird aber vor seiner Rückkehr nach Pekašino von einem Banditen ermordet. Anfisa, die treu zu ihm gehalten hat, stürzt in tiefes Unglück. Aus Michail ist ein arbeitsbesessener Egoist geworden, dessen ganze Energie dem Bau eines neuen Hauses gilt. Die jüngere Schwester Tat'jana lebt in Moskau das privilegierte Leben einer Funktionärsfrau. Die jüngeren Brüder Petr und Grigorij kommen nach sieben Jahren wieder ins Dorf zurück, Grigorij als auf Petrs Hilfe angewiesener Epileptiker, der die Kinder liebt und Anfälle bekommt, wenn ihm Böses begegnet. Der alte Jevsej Moškin ist zum Trinker geworden. Er stürzt unglücklich und stirbt nach drei Tagen qualvollen Leidens, das er mit christlicher Demut aushält. Vor seinem Tod hält er dem verkommenen Jegor eine Strafpredigt, die diesem die Augen darüber öffnet, daß er mit seinem Leben nicht nur Liza und viele andere Frauen, sondern vor allem seine eigene Seele ruiniert hat. Nach der Versöhnung mit Michail und einem letzten Besuch des Grabs des “Heiligen” Jevsej verläßt Jegor das Dorf für immer, offenbar um seinem verpfuschten Leben ein Ende zu setzen. Die unglückliche Liza wird von einem herabstürzenden Balken erschlagen. Erst nach ihrem Tod geht Michail in sich, gibt sich die Schuld an ihrem unglücklichen Leben und schämt sich vor dem toten Jevsej über seine seelische Verhärtung. In sein neues Haus nimmt er Lizas Kinder auf.
Eingeschoben in die Haupthandlung ist die “Vita der Großmärtyrerin Jevdokija”, die an alte Heiligenviten erinnernde Lebensbeschreibung einer treuen russischen Frau, die ihrem idealistischen und skurrilen Mann, einem weltfremden Revolutionär, überall hin folgte, auch in die sibirische Gefangenschaft.
Ein zentrales Anliegen des Romans (wie der Romantetralogie insgesamt) ist die Sozialkritik. Die wirtschaftliche Lage auf dem Land ist besser geworden. Aber dafür sind die menschlichen Bindungen und Werte der Kriegs- und Nachkriegsjahre verschwunden. In einer Reflexion der weiblichen Hauptfigur Liza kommt dies so zum Ausdruck: “Gott verhüte, daß sie noch einmal solchen Hunger ertragen müßten, wie im Krieg und danach. Gott verhüte, daß diese schrecklichen Zeiten zurückkehrten, wo die Kinder den ganzen Winter über zusammengedrängt auf dem Ofen sitzen mußten. Und trotzdem, trotzdem… Nie hatte es bei ihnen, den Prjaslins soviel Glück und Freude gegeben, wie in jenen fernen, unvergeßlichen Jahren.” Liza bedauert den Niedergang der Natur, das Versiegen der Pinega, die mit ihrem Fischreichtum die Anwohner am Leben gehalten hat. Jetzt ist der Fluß wegen des Raubbaus an Baumholz fast ohne Wasser.
Noch entscheidender als die Sozialkritik und das Aufdecken der dunklen Seiten der sowjetischen Wirklichkeit ist freilich die philosophische Dimension des Romans. Mit dem symbolischen Romantitel sind die zahlreichen neuen Häuser im Dorf gemeint, aber auch das alte und baufällige Prjaslin-Haus, das Petr reparieren will, dazu das unglückliche Haus der alten Stavrov, aus dem der mißratene Enkel seine Frau verjagt. Es ist damit aber vor allem das neue Haus gemeint, das Michail erbaut und das nach seiner seelischen Erneuerung ein echtes Heim für seine Familie wird. Abramov legt diese Zentralidee dem sterbenden “heiligen” Trinker Jevsej in den Mund. Dieser zeigt dem Schuft Jegor, daß die Geschichte der Welt auf Menschen wie Michail und Liza ruhen und fügt hinzu: “Das wahre Haus baut sich der Mensch in seiner Seele. Und dieses Haus verbrennt nicht im Feuer und versinkt nicht im Wasser. Es ist fester als Ziegelsteine und Diamanten.” Es ist deutlich, daß der ethische Anspruch, der in diesen Worten Jevsejs verborgen ist, nicht nur für das Haus Michail Prjaslins und nicht nur für sein Heimatdorf Pekašino gilt, sondern für das Zusammenleben in der sowjetischen Gesellschaft insgesamt.

Jeder der vier Teile der Tetralogie ist in sich geschlossen und hat seine individuelle thematische Ausrichtung und emotionale Färbung. Dies wird gerade in der gegenseitigen Beleuchtung der vier Romanteile deutlich. Die Einheit des Ortes und der Hauptfiguren im Wandel der Zeit wird thematisch überhöht in der Einheit des zentralen Themas, der menschlichen Bewährung in der gemeinsamen Arbeit und der aufopferungsvollen Hilfeleistung für die anderen, die nächsten Verwandten, die Dorfgemeinschaft, das ganze Land. Abramov vermeidet dabei jede Schwarz-Weiß-Malerei. Auch seine positiven Helden wie Michail und Liza tragen negative Züge und sind nicht gefeit gegen seelische Verhärtung oder andere Versuchungen. Andrerseits sind auch die negativen Figuren komplizierte Charaktere. Ihre charakterlichen Mängel werden oft verstärkt durch das soziale Umfeld. Überhaupt zeigt Abramov seine Figuren stets in der Spannung zwischen individual- und sozialpsychologischen Verhaltensmustern. Ganz entgegen der philosophischen Doktrin des Marxismus-Leninismus ist für das Handeln seiner Figuren in letzter Instanz immer die individuelle Veranlagung, die persönliche Entscheidung aus Schwäche oder aber aus moralischer Kraft maßgebend.

Insgesamt besticht besonders Abramovs Bemühen um absolute Ehrlichkeit. Für den russischen Leser, der an die “äsopische Sprache” der Sowjetliteratur gewöhnt ist und zwischen den Zeilen zu lesen versteht, ist nicht nur die Kritik an den sozialen Verhältnissen von beklemmender Aktualität, sondern auch die Behandlung solcher mit vielen Tabus belegter Themen wie die Verfolgung von Altkommunisten, die Diskriminierung jener Russen, die ohne eigene Schuld in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren, die Unterdrückung der gläubigen Christen. Abramovs Romane und Erzählungen durchzieht die Ablehnung der staatlichen Repressionsmaßnahmen der Stalin-Zeit, einschließlich der Zwangskollektivierung vor dem Krieg, die bis heute die sowjetische Gesellschaftsstruktur und die soziale Mentalität der bäuerlichen Bevölkerung entscheidend bestimmt und geprägt hat. Aber auch die Entwicklung der Nachkriegszeit spiegelt Abramov in seinen Helden ziemlich pessimistisch. Der Idealismus der harten Kriegsjahre ist weithin verloren gegangen. Das allzu lange Fortdauern der bitteren Armut noch viele Jahre nach dem Krieg hat dazu geführt, daß egoistisches Besitzstreben und eine früher unbekannte Konsum-Mentalität um sich gegriffen haben. So steht der unbestreitbaren Verbesserung der wirtschaftlichen Situation auf dem Land das Schwinden früherer Werte wie Solidarität und Arbeitswille entgegen.

Abramov hat neben seinen vier Romanen sechs Kurzromane (povesti) geschrieben, außerdem über dreißig Erzählungen und eine größere Anzahl von kurzen Dialogszenen, Erlebnissen und Anekdoten aus dem russischen Norden, die er 1982 unter dem Titel “Trava-murava” (Frisches Gras, entstanden 1955–1980) zusammengefaßt hat. Auch ohne seine großen Romane, allein mit seiner kürzeren Erzählprosa, hätte sich Abramov einen Ehrenplatz in der sowjetischen Gegenwartsliteratur gesichert. In diesen kürzeren Werken variiert und vertieft er Themen, die er auch in seinen Romanen anspricht.

Viel diskutiert wurden in der Sowjetunion die beiden zusammengehörenden povesti “Pelageja” und “Alka” (1967–1969 bzw. 1971), in denen es um das schwierige Verhältnis der Nachkriegsgeneration zu den Eltern geht, die ihr ganzes Leben lang schwer gearbeitet haben und ihren Kindern ein leichteres Leben ermöglichen wollen: Die Tochter Alka verläßt ihre Mutter und sucht in der Stadt das angenehme Leben. Nach dem Tod der Mutter kehrt Alka ins Dorf zurück und will dort als Bäuerin in die Fußstapfen der Mutter treten; aber die Verlockungen der Stadt sind zu groß und Alka kann ihnen nicht widerstehen.

Einen ähnlichen Konflikt zwischen Jung und Alt, allerdings mit anderen psychologischen Akzenten und mit einem positiven Ausgang, hat Abramov in seiner späten Erzählung “Žarkim letom” (In einem heißen Sommer, abgeschlossen 1981) gestaltet: Das Verhältnis zwischen einem kranken, aber gegen sich selbst harten Tischler und seiner Stieftochter, die für die verstorbene Mutter den Haushalt besorgt, gerät wegen der zu großen Strenge des Stiefvaters in eine Krise; doch erkennen beide, wie sehr sie aneinander hängen.

Die ergreifende Erzählung “Proletali lebedi” (Schwäne sind vorübergeflogen, entstanden 1963/64) handelt von der aufopferungsvollen Liebe des Mädchens Nad'ka zu ihrem kleinen schwächlichen und geistig zurückgebliebenen Brüderchen Pan'ka, der von den anderen Kindern gehänselt wird. Als eines Tages Schwäne über das Dorf ziehen und die Mutter davon erzählt, wie sie in ihrer Jugend Schwäne am nahen See beobachtet hat, zieht es den kleinen träumerischen Jungen unwiderstehlich den Vögeln nach. Als man ihn findet, ist er selig, denn er hat die Schwäne wieder gesehen. Aber er stirbt vor Kälte und Schwäche. Drei Monate später folgt ihm seine früher so ausgelassene Schwester ins Grab; sie hat aus Kummer jeden Willen zum Leben verloren.

Auch in “Materinskoe serdce” (Mutterherz, 1969) geht es um den Tod eines kleinen Kindes. Die vier älteren Söhne einer Bäuerin sind im Krieg umgekommen. Den jüngsten Sohn hat sie verloren, weil sie vom Brigadier des Dorfes zur Arbeit im Wald abkommandiert wurde und ihr krankes Kind nicht rechtzeitig in die Stadt zum Arzt bringen konnte. Es ist für die alte Frau kein Trost, daß auch an diesem tragischen Tod der Krieg schuld war. Mit diesen Erzählungen über das Sterben unschuldiger Kinder greift Abramov ein Thema auf, um dessen Bewältigung die russische Literatur von Dostojevskij bis Ajtmatov gerungen hat. Und Abramov entfernt sich in diesen Erzählungen wohl am weitesten von der optimistischen Grundhaltung, auf die der “sozialistische Realismus” von Partei und Literaturkritik immer wieder verpflichtet wird.

In seinen kürzeren Prosawerken gelingen Abramov auch unvergeßliche Porträts alter russischer Frauen, die in ihrem Denken und Fühlen noch ganz in der bäuerlichen Welt des russischen Nordens verwurzelt sind. Dieser Frauentyp ist seit der Gestalt der alten Matrëna in A.Solženicyns povest' “Matrënin dvor” (Matrjonas Hof, 1963) von den “Dorfporsaikern” wie V.Rasputin oder V.Astaf'ev wiederholt künstlerisch gestaltet worden. Besonders beeindruckend sind neben der fleißigen Pelageja in der gleichnamigen povest' die Frauenfiguren in “Hölzerne Pferde” (1969), “Slon goluboglazyj” (Der blauäugige Elefant, 1979; mit starken autobiographischen Akzenten) und “Iz kolena Avvakumova” (Aus dem Geschlecht Avvakums, 1978). In der letztgenannten Erzählung schildert Abramov den Leidensweg einer unerschütterlichen Altgläubigen, einer echten Nachfahrin des Protopopen Avvakum, der im 17.Jahrhundert seine Treue zum alten ,russischen’ Glauben gegen alle Widerfahrnisse behauptet hat. Auch hier, wie schon mit der Figur des Jevsej in der Romantetralogie, kümmert sich Abramov nicht um die parteiamtliche Tabuisierung religiöser Themen, sofern sie nicht der Volksaufklärung im Sinne des “wissenschaftlichen Atheismus” dienen. Abramov scheint vielmehr in seinen letzten Jahren immer deutlicher erkannt zu haben, daß die positiven Werte seiner bäuerlichen Gestalten eine religiöse Grundlage haben und ohne das Ethos des Altgläubigentums des russischen Nordens gar nicht denkbar sind.

Eine Charakteristik des literarischen Werks Fedor Abramovs wäre unvollständig, wenn sie nicht auf die große sprachliche Meisterschaft hinwiese, mit der dieser Schriftsteller seinen Figuren Plastizität und Individualität verliehen hat. Für Abramov ist die genormte Literatursprache eine Fiktion, die der Vielschichtigkeit gerade der bäuerlichen Redeweise mit ihrer lebendingen Synthese alter und neuer, dialektaler und hochsprachlicher Elemente nicht gerecht wird. Die Sprache der Literatur soll der lebendige Ausdruck der Zeit, des Milieus, der sozialen Psychologie sein. So ist die Redeweise der Figuren ausgerichtet an der lebendigen Redeweise ihres Milieus und ihres Charakters. Die Sprache des Erzählers verschmilzt weitgehend mit der Sprache der Figuren und entspricht damit der vorherrschenden ,personalen’ Erzählperspektive, bei der das Denken, Fühlen und Erleben der Figur ganz im Vordergrund steht und die Position des Erzählens nur dienende Funktion hat. Abramov hat sich in seinem künstlerischen Schaffen an seine auch theoretisch von ihm begründete Überzeugung gehalten, daß es nicht die Aufgabe des Schriftstellers sei, eine Sprache auszudenken. Er muß vielmehr aufgrund seiner intimen Kenntnis der lebendigen Redeweise des Volkes und gemäß seinem künstlerisch-ästhetischen Urteil die sprachlichen Gestaltungsmittel auswählen. Abramov orientierte sich bewußt an der lebendigen Sprachkultur des russischen Nordens, an der “častuška” (Gassenhauer), am “ostroslovie” (Wortspiel, Wortwitz); er vermied jeden falschen Folklorismus, die künstliche Stilisierung der Redeweise der Figuren in der Art der Sprache der Bylinen und Märchen, denn er wußte sehr wohl, daß diese literarischen Formen nicht mehr wirklich lebendig sind und die Redeweise der Menschen nicht mehr bestimmen. Es leuchtet ein, daß die nuancenreiche Sprache Abramovs, die den ganzen Reichtum einer lebendigen mündlichen Sprachkultur ausschöpft, den Leser, besonders den nichtrussischen, und den Übersetzer vor große Schwierigkeiten stellt.

Fedor Abramovs Werk nimmt innerhalb der russischen “Dorfprosa”, der sprachlich-stilistisch wie thematisch und philosophisch zweifellos bedeutendsten Strömung der Gegenwartsliteratur, einen besonderen Rang ein. Auf der Grundlage der “Očerk”-Tradition greift Abramov die brennenden sozialen Probleme seines Landes ohne Beschönigung auf und vermeidet weitgehend die ästhetische ,Aufhebung’ unlösbarer individual- oder sozialpsychologischer Konflikte durch Transposition ins Mythische. Dieser Gefahr der Beschönigung sind andere Dorfprosaiker, etwa der von Abramov hoch geschätzte V.Rasputin, nicht immer entgangen. Andererseits hat sich der “pravdist”, der Wahrheitsfanatiker Abramov, jedes selbstherrliche Experimentieren mit der Volkssprache versagt, was ihn von anderen Dorfprosaikern, etwa von V.Belov, unterscheidet. Leider war es Abramov nicht mehr vergönnt, die Arbeit an einem großen Erzählwerk zu vollenden, in dem er die Entwicklung des russischen Nordens seit dem Beginn dieses Jahrhunderts, den Wandel der sozialen Verhältnisse, der Ökonomie und Ökologie, die Schicksale der Menschen mit ihren Wertvorstellungen und Konflikten darstellen wollte. Es bleibt zu hoffen, daß in den nächsten Jahren aus dem Nachlaß Abramovs die Vorarbeiten zu diesem Werk veröffentlicht werden.

Fedor Aleksandrovič Abramov - Primärliteratur

Es werden in erster Linie die Buchveröffentlichungen genannt, vereinzelt auch Publikationen in Zeitschriften, soweit sie nicht in die dreibändige Werkausgabe von 1980–1982 aufgenommen wurden. Die Jahreszahlen bei den im Text genannten Werktiteln stammen von Abramov selbst bzw. bei den posthumen Ausgaben von den Herausgebern. Sie bezeichnen die Zeit der endgültigen Fertigstellung und entsprechen zumeist dem Jahr der Erstveröffentlichung. Die im Text genannten Werke sind, soweit nicht in der Bibliographie gesondert aufgeführt, in der dreibändigen Werkausgabe von 1980–1982 enthalten.
“Ljudi kolchoznoj derevni v poslevoennoj proze”. (Die Menschen des Kolchos-Dorfes in der Nachkriegsprosa). In: Novyj mir. 1954. H.4. S.210–231.
“Šolochov. Seminarij”. (Šolochov. Ein Seminar). Zusammen mit V.V. Gura. Leningrad (Učpedgiz) 1958.
“Brat'ja i sestry”. (“Brüder und Schwestern”). [Erster Teil des Abramovschen Romanzyklus]. Moskva (Goslitizdat) 1959.
“Bezotcovščina. Povsti' i rasskazy”. (Vaterlosigkeit. Ein Kurzroman und Erzählungen). Moskva, Leningrad (Sovetskij pisatel') 1962.
“Odin Bog dlja vsech”. (Ein Gott für alle. Ein Theaterstück). In: Neva. 1962. H.8.
“Vokrug da okolo”. (“Ein Tag im Neuen Leben”). In: Neva. 1963. H.1.
“Brat'ja i sestry. – Bezotcovščina. – Žila-byla semužka. Rasskazy”. (“Brüder und Schwestern”; Vaterlosigkeit; Es war einmal ein Salmmädchen. Erzählungen). Leningrad (Lenizdat) 1963.
“Brat'ja i sestry. – Bezotcovščina. Rasskazy”. (“Brüder und Schwestern”; Vaterlosigkeit. Erzählungen). Moskva, Leningrad (Chudožestvennaja literatura) 1966.
“Dve zimy i tri leta”. (“Zwei Winter und drei Sommer”). [Zweiter Teil des Abramovschen Romanzyklus]. Leningrad (Sovetskij pisatel') 1969.
“Sosnovye deti. Povest' i rasskazy”. (Kiefernkinder. Ein Kurzroman und Erzählungen). Moskva (Sovetskaja Rossija) 1970.
“Derevjannye koni. Povesti i rasskazy”. (“Hölzerne Pferde”. Kurzromane und Erzählungen). Leningrad (Sovetskij pisatel') 1972.
“Brat'ja i sestry. – Dve zimy i tri leta. Romany”. (“Brüder und Schwestern”; “Zwei Winter und drei Sommer”. Romane). Leningrad (Sovetskij pisatel') 1972. Leningrad (Lenizdat) 1973.
“Poslednjaja ochota. Povesti i rasskazy”. (Die letzte Jagd. Kurzromane und Erzählungen). Moskva (Sovetskaja Rossija) 1973.
“Puti-pereput'ja. Roman”. (“Wege und Kreuzwege. Ein Roman”). [Dritter Teil des Abramovschen Romanzyklus]. Moskva (Sovremennik) 1973.
“Pelageja i Al'ka. Povesti i roman”. (Pelageja und Al'ka. Kurzromane und ein Roman). Archangel'sk (Severo-Zapadnoe knižnoe izdatel'stvo) 1974.
“Prjasliny. Trilogija”. (Die Prjaslins. Eine Trilogie). [Enthält die Romane: “Brüder und Schwestern”; “Zwei Winter und drei Sommer”; “Wege und Kreuzwege”]. Moskva (Sovremennik) 1974.
“Izbrannoe v dvuch tomach”. (Ausgewähltes in zwei Bänden). [Enthält die Prjaslin-Trilogie und eine Auswahl aus den Kurzromanen und Erzählungen]. Leningrad (Chudožestvennaja literatura) 1975. Moskva (Izvestija) 1976.
“Dve zimy i tri leta. Roman”. (“Zwei Winter und drei Sommer. Ein Roman”). [Zweiter Teil des Abramovschen Romanzyklus]. Leningrad (Detskaja literatura) 1977.
“Prjasliny. Trilogija”. (Die Prjaslins. Eine Trilogie). Moskva (Sovremmenik / Sovetskij pisatel') 1977. Leningrad (Lenizdat) 1978.
“Derevjannye koni. Povesti i rasskazy”. (“Hölzerne Pferde”). Kurzromane und Erzählungen). Moskva (Sovremennik) 1978. Leningrad (Lenizdat) 1979.
“Proletali lebedi. Rasskazy”. (Die Schwäne sind vorübergeflogen. Erzählungen). [Enthält u. a.: “Žarkim letom” (In einem heißen Sommer)]. Leningrad (Detskaja literatura) 1979.
“Dom. Roman”. (“Das Haus. Ein Roman”). [Vierter Teil des Abramovschen Romanzyklus]. Leningrad (Sovetskij pisatel') 1979.
“Brat'ja i sestry. Tetralogija”. (“Brüder und Schwestern”. Eine Tetralogie). [Enthält die Romane “Brüder und Schwestern”; “Zwei Winter und drei Sommer”; “Wege und Kreuzwege” (zuvor zur Trilogie “Die Prjaslins” zusammengefaßt); “Das Haus”. Der abgeschlossene Romanzyklus erhielt den Titel des ersten Romans]. Moskva (Sovremennik) 1980.
“Žila-byla semužka. Povesti”. (Es war einmal ein Salmmädchen. Kurzromane). Leningrad (Detskaja literatura) 1980.
“Pelageja. Al'ka. Povesti”. (Pelageja; “Alka”. Kurzromane). Moskva (Sovremennik) 1980.
“Sobranie sočinenij v 3 tomach”. (Gesammelte Werke in 3 Bänden). [Bisher umfangreichste Werkausgabe, enthält neben der Romantetralogie die Kurzromane und Erzählungen früherer Ausgaben, u. a.: “Materinskoe serdce” (Mutterherz); “Slon goluboglazyj” (Der blauäugige Elefant); “Iz kolena Avvakumova” (Aus dem Geschlecht Avvakums), sowie die wichtigsten literaturkritischen Stellungnahmen]. Leningrad (Chudožestvennaja literatura) 1980–1982.
“Babilej. Rasskazy. Povesti”. (Das Jubiläum. Erzählungen. Kurzromane). Leningrad (Sovetskij pisatel') 1981.
“Brat'ja i sestry. Roman v 4 knigach”. (“Brüder und Schwestern. Romanzyklus”). Leningrad (Sovetskij pisatel') 1982. Moskva (Sovetskaja Rossija) 1987.
“Trava-murava. Povesti i rasskazy”. (Frisches Gras. Kurzromane und Erzählungen). Moskva (Sovremennik) 1982.
“Povesti”. (Kurzromane). Moskva (Sovetskaja Rossija) 1983.
“Byt' graždaninom”. (Ein Bürger sein). [Interview vom 13. 4. 1983 in Leningrad]. In: Literaturnaja gazeta. 1983. H.15. S.6.
“Žarkim letom. Rasskazy”. (In einem heißen Sommer. Erzählungen). [Letzte vom Autor vorbereitete Auswahl; enthält sechs erstmals veröffentlichte Erzählungen]. Leningrad (Sovetskij pisatel') 1984.
“Dom. Roman”. (“Das Haus. Ein Roman”). Moskva (Sovremennik) 1984.
“Povesti i rasskazy”. (Kurzromane und Erzählungen). Leningrad (Lenizdat) 1985.
“Čem živem-kormimsja. Stat'i. Vospominanija. Literaturnye portrety. Zametki. Razmyšlenija. Besedy. Interv'ju. Vystuplenija”. (Wovon wir leben und uns nähren. Skizzen, Aufsätze, Erinnerungen, Literarische Porträts, Notizen, Gedanken, Gespräche, Interviews, Vorträge). Leningrad (Sovetskij pisatel') 1986.
“Rasskazy. Frantik. – Staruchi. – A vojna ešče ne končilas' ”. (Erzählungen: Frantik; Alte Frauen; Aber der Krieg ist noch nicht zu Ende). [Aus dem Nachlaß]. In: Naš sovremennik. 1987. H.4. S.124–136.
“Slovo v jadernyj vek. Stat'i. Očerki. Vystuplenija. Interv'ju. Literaturnye portrety. Vospominanija. Zametki”. (Ein Wort zum Atomzeitalter. Aufsätze, Skizzen, Vorträge, Interviews, Literarische Porträts, Erinnerungen, Notizen). Moskva (Sovremennik) 1987.
“Dela rossijskie. Povesti i rasskazy”. (Russische Angelegenheiten. Kurzromane und Erzählungen). Moskva (Molodaja gvardija) 1987.
“Pašnja živaja i mertvaja. Očerki. Rasskazy. Stichi”. (Lebender und toter Acker. Skizzen, Erzählungen, Gedichte). Zusammen mit A.Čistjakov. Leningrad (Sovetskij pisatel') 1987.

Fedor Aleksandrovič Abramov - Übersetzungen

“Ein Tag im Neuen Leben”. (“Vokrug da okolo”). Übersetzung: I. Buschmann. München, Zürich (Droemer) 1963. Berlin, Darmstadt, Wien (Deutsche Buchgemeinschaft) 1965.
“Brüder und Schwestern. Romanzyklus”. (“Brat'ja i sestry. Tetralogija”). [Bd.1: “Brüder und Schwestern” (“Brat'ja i sestry”); Bd.2: “Zwei Winter und drei Sommer” (“Dve zimy i tri leta”); Bd.3: “Wege und Kreuzwege” (“Puti-pereput'ja”); Bd.4: “Das Haus” (“Dom”)]. Übersetzung: Elena Panzig Berlin, DDR (Volk und Welt) 1976–1980.
“Alka. Erzählungen”. (“Al'ka”). [Enthält auch alle Kurzromane und Erzählungen aus der Zeit vor 1978]. Übersetzung: Elena Panzig, Günter Löffler. Berlin, DDR, Weimar (Aufbau) 1978.
“Hölzerne Pferde”. (“Derevjannye koni”). Übersetzung: N.N. In: Sowjetische Erzählungen heute. München (Damnitz) 1979. (Kleine Arbeiter-Bibliothek 55). S.191–234.

Fedor Aleksandrovič Abramov - Sekundärliteratur

Lakschin, Wladimir: “Spor s vetchoj mudrost'ju”. In: Novyj mir. 1961. H.5. S.224–229.
Andreev, Jurij: “Bol'šoj mir. O proze Fedora Abramova”. In: Neva. 1973. H.3. S.172– 182.
Hosking, Geoffrey A.: “The Russian Peasant Redescovered: ,Village Prose’ of the 1960's”. In: Slavic Review. 32. 1973. H.4. S.705– 724.
Ludwig, Nadeshda (Hg.): “Handbuch der Sowjetliteratur (1917–1972)”. Leipzig (Bibliographisches Institut) 1975. S.135.
Kasack, Wolfgang: “Lexikon der russischen Literatur ab 1917”. Stuttgart (Kröner) 1976. (Kröners Taschenausgabe 451). S.15 (mit Literatur; eine aktualisierte Neuausgabe in englischer und russischer Sprache ist in Vorbereitung).
Lewis, P.: “Peasant Nostalgia in Contemporary Russian Literature”. In: Soviet Studies. 1976. H.4. S.548–569.
Klepikowa, J.: “Fjodor Abramows Trilogie ,Brüder und Schwestern’”. In: Kunst und Literatur. 1977. H.6. S.627–638.
Perret-Gentil, Y.: “Der Kolchosbauer in der heutigen russischen Dorf-Literatur”. In: Osteuropa. 1978. H.9. S.794–810.
Brown, Deming: “Soviet Russian Literature since Stalin”. Cambridge (University Press) 1978. S.233–237.
Lindemann, Gisela (Hg.): “Sowjetliteratur heute”. München (Beck) 1979. (Beck'sche Schwarze Reihe 188). S.115 f. 236.
Brauneck, Manfred (Hg.): “Weltliteratur im 20.Jahrhundert. Autorenlexikon”. Bd.1 Reinbek (Rowohlt) 1981. (rororo 6265). S.15 (mit Literatur).
Zolotusskij, Igor: “Trepet serdca”. In: Novyj mir. 1981. H.9. S.246–250.
Dedkov, Igor': “O tvorčestve Fedora Abramova”. In: Voprosy literatury. 1982. H.7. S.37–65.
Mehnert, Klaus: “Über die Russen heute. Was sie lesen, wie sie sind”. Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1983. S.84–87. 135–139 u.ö.
Ovčarenko, A.: “Ešče o ,Prjaslinych’”. In: Naš sovremennik. 1984. H.2. S.162–171.
Roščin, B.: “Est' v Rossii… O Fedore Abramove”. In: Neva. 1985. H.3. S.113– 133.
Krutikova, L. (Hg.): “Zemlja Fedora Abramova”. Moskva (Sovremennik) 1986. [Sammlung von Rezensionen und Aufsätzen über Abramov, Leserbriefen an ihn, Nachrufen und Gedichten].
Zolotusskij, Igor: “Fedor Abramov”. Moskva (Sovetskaja Rossija) 1986.
Turkov, Andrej: “Fedor Abramov. Očerk”. Moskva (Sovetskij pisatel') 1987.
Vasil'ev, Vladimir: “Iz kolena Avvakumova. Ličnost' i tvorčestvo F.Abramova v svete perestrojki”. In: Naš sovremennik. 1987. H.3–4. S.115–124. 151–161.


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