MUNZINGER Wissen, das zählt | Zurück zur Startseite
Wissen, das zählt.


Kindler

Igorlied (Slovo o polku Igoreve)

Hauptgattung Epik / Prosa
Untergattung Epos

(aruss., ksl.; Das Lied von der Heerfahrt Igor's) – Das anonyme heroische Poem entstand wahrscheinlich um 1185 bis 1187 (unter Annahme der Echtheit; s. u.) in der Umgebung des Großfürsten von Kiew. Die einzige überlieferte Handschrift, die auf den Zeitraum um 1500 datiert wurde, ist 1812 in Moskau verbrannt, vorher (1800) aber ediert worden. Gegenstand des kurzen, 218 Sätze umfassenden Poems ist ein unglücklich verlaufener Feldzug des russischen Teilfürsten Igor Svjatoslavič von Novgorod-Seversk (1151–1202) gegen die in der südrussischen Steppe nomadisierenden Kumanen im April und Mai 1185. Der Feldzug wurde ohne jede Koordinierung mit den weiterreichenden strategischen Plänen des Kiewer Großfürsten Svjatoslav unternommen. Igors Heer wurde nach einem Anfangserfolg gegen die kumanische Vorhut in der Nacht zum 9. Mai von der kumanischen Hauptstreitmacht eingeschlossen und vollständig vernichtet. Igor selbst geriet in Gefangenschaft; die Kumanen suchten im Sommer 1185 das seiner Verteidiger beraubte russisch-kumanische Grenzgebiet mit schweren Plünderungszügen heim. Igor floh (wahrscheinlich im Frühjahr 1186); sein Sohn Vladimir, der mit ihm gefangen genommen war, heiratete in der Gefangenschaft die Tochter eines kumanischen Fürsten und wurde mit ihr zusammen im Jahre 1187 nach Russland entlassen.

Das Igorlied will durch die lyrisch gestimmte Schilderung eines hochbedeutsamen, symbolstarken Geschehens der jüngsten Vergangenheit den Hörer (oder Leser) zu politischem und militärischem Handeln hinreißen. Die Stellung zu dem Helden des Poems, dem Fürsten Igor, zeigt einen doppelten Aspekt: Igor wird gerühmt wegen seiner Tapferkeit und seiner Bereitschaft, für das russische Land zu kämpfen; aber er wird freimütig getadelt für die politische Unbedachtsamkeit und Verantwortungslosigkeit, mit der er seine militärischen Aktionen durchführt, wodurch er das seiner Führung anvertraute Heer und ganz Russland in schweres Unglück bringt.

Die Frage nach der literarischen Gattung des Igorliedes ist umstritten. In der Überschrift wird es »Slovo« (Rede) genannt, und man hat es deswegen als ein Werk der politischen Rhetorik aufgefasst. Im Werk selbst bezeichnet es der Dichter als »pesn« (Lied). Er stellt es in die Tradition der Lieder des nur im Igorlied selbst und in der Zadonščina erwähnten Dichters Bojan, auch wenn er sich von dessen Stil distanziert. Wie Bojan seine Lieder unter Begleitung eines Saiteninstruments, also rezitierend vorgetragen hatte, so dürfte es auch der Dichter des Igorlieds getan haben. Gleichzeitig könnte er es aber auch von vornherein zur Lektüre bestimmt und deswegen selbst aufgezeichnet haben. Kenntnis nicht nur der mündlichen Dichtung, sondern auch des künstlerischen und gelehrten Schrifttums seiner Zeit muss für den Dichter und bis zu einem gewissen Grad auch für seine Hörer und Leser vorausgesetzt werden. Das Poem ist stellenweise rhythmisch gegliedert, aber für das ganze Werk konnte ein klares, durchgehendes Versmaß nicht nachgewiesen werden. Der Rhythmus war vielleicht stark bestimmt durch die Art des musikalischen Vortrags.

Die Sprache des Igorlieds ist von hohem dichterischem Rang. Die Sätze und Perioden sind kunstvoll und abwechslungsreich gebaut, Alliteration und Reim erzielen feine musikalische Wirkungen und durch Apostrophierungen, rhetorische Fragen und Ausrufe bringt der Dichter den Zuhörern seine Emotionen nahe. Zahlreiche Vergleiche und Metaphern beziehen die Fülle des Lebens in die Schilderung der thematisch eng umgrenzten Handlung ein; dabei stehen Verglichenes und Vergleichendes oft in tragischer Spannung zueinander, etwa das freudige Gastmahl und die blutige Schlacht. Ein reich differenzierter Wortschatz, der viele sonst wenig oder gar nicht belegte Wörter der altrussischen Sprache bietet, lässt diese Lebensfülle plastisch deutlich werden, macht sie visuell und akustisch erfahrbar. Auch unter dem Aspekt geistesgeschichtlicher Betrachtung enthält das Igorlied innere Spannungen. Neben (verhältnismäßig wenigen) christlichen Begriffen und Symbolen und Ansätzen zu einer Kreuzzugsideologie stehen ausgeprägte pagane Elemente: Namen und Begriffe aus der heidnischen Mythologie, Spuren volkstümlichen Aberglaubens und ein vorchristliches Naturempfinden.

Seit seiner Auffindung am Ende des 18. Jh.s hat das Igorlied innerhalb und außerhalb Russlands höchstes Interesse und Bewunderung hervorgerufen. Bis heute wird es nachgedichtet, übersetzt und kommentiert; unter den Übersetzern sind bedeutende Dichter (V. Žukovskij, A. Majkov, K. Bal'mont, R. M. Rilke, V. Nabokov). Namhafte Künstler haben es illustriert; A. Borodin (1833–1887) hat den Stoff des Igorliedes zum Sujet seiner unvollendeten Oper Knjaz' Igor (Fürst Igor) gemacht (vollendet und bearbeitet durch N. Rimskij-Korsakov und A. Glazunov). Einzelne Wendungen und Motive des Igorliedes sind in der russischen Literatur des 19. und 20. Jh.s vielfach benutzt worden.

Da die einzige überlieferte Handschrift seit 1812 verloren ist, können vorgetragene Zweifel an der Echtheit des Igorliedes nicht direkt auf der Grundlage einer Analyse der Beschaffenheit der Quelle widerlegt werden. Der Streit über seine Echtheit ist nicht abgeschlossen, die Argumente beider Seiten sind nicht unmittelbar beweiskräftig.

Ausg.:Das Igor-Lied. Eine Heldendichtung. Der altrussische Text mit der Übertragung von Rainer Maria Rilke und der neurussischen Prosafassung von D. S. Lichatschow, 1985.

Übers.:Das Lied von der Heerfahrt Igor's. Aus dem altrussischen Urtext übers., eingel. und erl. von L. Müller, 1989.

Lit.:D. Statkov: Das ›Igorlied‹ – Eine Dichtung des XII. oder XVIII. Jh.s? Mit einer anschließenden Betrachtung über das ›Igorlied‹ als höfisches Epos und die Erzählungen der Chronisten, in: Arbeitstreffen des Seminars für Slavistik der Ruhr-Universität Bochum anläßlich des Christianisierungsmilleniums Russlands: 18. 11. 1988 und 25. 11. 1988, Hg. H. Jachnow, 1990, 199–221. • B. Gasparov: Poėtika ›Slova o polku Igoreve‹, 2000. • A. Zaliznjak: ›Slovo o polku Igoreve‹. Vzgljad lingvista, 2004.

Ludolf Müller / Volker Bockholt


Die Biographie von Peter Wawerzinek ist nur eine von über 40.000, die in unseren biographischen Datenbanken Personen, Sport und Pop verfügbar sind. Wöchentlich bringen wir neue Porträts, publizieren redaktionell überarbeitete Texte und aktualisieren darüberhinaus Hunderte von Biographien.
Unsere Datenbanken sind unverzichtbare Recherchequelle für Journalisten und Publizisten, wertvolle Informationsquelle für Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft, Grundausstattung für jede Bibliothek und unerschöpfliche Fundgrube für jeden, der mit den Zeitläuften und ihren Protagonisten Schritt halten will.



Lucene - Search engine library