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Wissen, das zählt.


MUNZINGER Personen

Frank Castorf

deutscher Theaterregisseur und Intendant
Geburtstag: 17. Juli 1951 Berlin
Nation: Deutschland - Bundesrepublik

Internationales Biographisches Archiv 02/2022 vom 11. Januar 2022 (bc)
Ergänzt um Nachrichten durch MA-Journal bis KW 13/2025


Wichtige Stationen im Überblick

1972 - 1976 Studium der Theaterwissenschaften an der Humboldt-Universität in Berlin
1976 - 1979 Engagement als Dramaturg am Theater in Senftenberg
1979 - 1981 Regisseur in Brandenburg
1981 - 1985 Oberspielleiter am Theater in Anklam
1988 "Wolokolamsker Chaussee I - III"
1988 "Paris, Paris"
1991 "Tell"-Inszenierung zum 700-Jahre-Schweiz-Jubiläum
1992 - 2017 Intendant der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin
01.1995 "Raststätte oder Sie machens alle" in Hamburg
1996 "Des Teufels General"
1997 "Die Weber"
1998 "Terrordrom"
1998 Erste Operninszenierung mit Verdis "Otello" in Basel
2000 Williams' "Endstation Sehnsucht" bei den Salzburger Festspielen
2002 "Der Idiot"
2003 Friedrich-Luft-Preis
2003 Internationaler Theaterpreis
2004 Künstlerische Leitung der Ruhrfestspiele von Recklinghausen; fristlose Kündigung vier Wochen nach der Eröffnungspremiere
2006 Nelson Rodrigues "Schwarzer Engel" als Projekt in São Paulo/Brasilien
2009 Sanierung der Volksbühne Berlin
2010 "Der Hofmeister" in Zürich
2011 "Der Spieler"
2013 "Ring des Nibelungen" bei den Bayreuther Festspielen
2015 "Baal" am Residenztheater München
2015 Großer Kunstpreis Berlin
2016 - 2019 Theaterpreis Nestroy für sein Lebenswerk
06.2017 Abschied als Intendant der Volksbühne Berlin mit der Inszenierung "Ein schwaches Herz"
2018 "Hunger" bei den Salzburger Festspielen
2019 "Galileo Galilei" am Berliner Ensemble
2021 "Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!" am Burgtheater Wien
29.10.2022 "Göttliche Komödie" in Belgrad
21.07.2023 "Medea" in Athen

Blick in die Presse

Herkunft

Frank Castorf wurde am 17. Juli 1951 in Berlin (Ost) als Sohn eines Händlers geboren. Sein Vater Werner betrieb bis 2012 einen Eisenwarenladen in Berlin.

Ausbildung

Nach dem Abitur (1970) machte C. in der DDR den Facharbeiterabschluss bei der Reichsbahn, leistete dann seinen Dienst bei der Nationalen Volksarmee ab und studierte 1972-1976 an der Humboldt-Universität Theaterwissenschaften.

Wirken

Anfänge in der DDR1976 erhielt C. ein Engagement als Dramaturg am Theater in Senftenberg, wo er mit Brecht-Einaktern und einer Schukschin-Inszenierung erste Regiearbeiten vorstellte. 1979-1981 arbeitete er dann als Regisseur in Brandenburg und kam hier zunehmend in Konflikt mit den SED-Kulturverantwortlichen. So verschwand seine mit Manfred Rafeldt erstellte Inszenierung des Karl-Grünberg-Stücks "Golden fließt der Stahl" über Industriesabotage (1950) rasch vom Spielplan.

1981-1985 war C. Oberspielleiter am Theater in Anklam und wurde hier mit Heiner Müllers "Die Schlacht" und "Der Auftrag", William Shakespeares "Othello" und Henrik Ibsens "Nora" zum Geheimtipp unter Theaterfreunden der DDR. Als "Stückezertrümmerer", "Klassik-Schänder" und "Wüterich aus der Provinz" etikettiert, begann in Anklam C.s Aufstieg in die führenden Häuser der DDR. Man holte ihn, der in der Schauspielerin Silvia Rieger eine kongeniale Interpretin seines politisch oppositionellen, wilden bis anarchischen Theaters gefunden hatte, u. a. nach Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), um Heiner Müllers "Bau" auf die Bühne zu bringen. Diese dank der Unterstützung von Intendant Gerhard Meyer bei den SED-Organen durchgesetzte Arbeit machte Furore bei der Werkstatt Junger Theaterschaffender. C.s Inszenierung von Ibsens "Der Volksfeind" (Karl-Marx-Stadt) erhielt eine Einladung zum Theaterfestival der DDR.

1988 brachte C. in Frankfurt/Oder Müllers "Wolokolamsker Chaussee I - III" heraus, dann in Ost-Berlin an der Volksbühne "Das trunkene Schiff" (Zech/Rimbaud) und zum Jahresende 1988 am Deutschen Theater "Paris, Paris" (eine Fassung von Bulgakows "Sojas Wohnung"). Diese Inszenierungen waren für Zuschauer aus dem Osten "lebenswichtige Selbstverständigungsveranstaltungen", wie Peter Staatsmann in der taz (11.6.1991) schrieb, da in C.s szenischen Übersetzungen die Texte mit vertrauten Elementen des Alltagslebens verbunden wurden. Es zählte zum leitenden Prinzip seiner Theaterarbeit, dass "Erkenntnis und Erfahrung entstehen können, wo Differenzen sichtbar werden". Die Kontinuität dieser politischen und gesellschaftlichen Zielrichtung zeigte auch seine Berliner Inszenierung von Schillers "Räuber" 1990 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, die zur deutschen Vereinigung "ohne Zweifel einen wütenden Kommentar" lieferte (SZ, 2.1.1991).

Erste Inszenierungen im WestenNoch vor dem Zusammenbruch der DDR Ende des Jahres 1989 hatte C. auch im Westen – mit Lessings "Miss Sara Sampson" in München, Shakespeares "Hamlet" in Köln, Sophokles' "Aias" in Basel und Goethes "Stella" in Hamburg - seinen Ruf als Theater-Erneuerer, der die Kritiker polarisierte wie kein anderer Regisseur, gefestigt. Heftige Kontroversen und Polemik löste 1991 in Basel auch seine "Tell"-Inszenierung zum 700-Jahre-Schweiz-Jubiläum aus, die eine Abrechnung mit den Schweizern und ihrem Selbstverständnis darstellte. Als Hausregisseur wurde C. 1990 festes Mitglied des Deutschen Theaters Berlin. Als erste Uraufführung brachte er hier 1992 Lothar Trolles 1989 entstandene Szenenfolge "Hermes in der Stadt" heraus.

Intendant der Berliner VolksbühneMit Beginn der Spielzeit 1992/1993 übernahm C. die Intendanz der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Es gelang C. an diesem Theater nach Beobachtermeinung ein spektakulärer Start mit gleichermaßen hart bekämpften wie euphorisch gepriesenen Versionen von "König Lear", Bronnens "Rheinischen Rebellen" oder Ibsens "Frau vom Meer". Schon nach seinem ersten Jahr kürten Kritiker die Volksbühne zum Theater des Jahres (1993) und würdigten dabei auch, dass hier ein lebendiger Treffpunkt für jüngere Leute entstanden war. Gemäßigte Eintrittspreise, begleitende politische Diskussionsveranstaltungen, Tango- und Rocknächte im sogenannten "Roten Salon" führten neben den eigenständigen Theatererkundungen von C. zu einem an den meisten Abenden vollen Haus. Seine Hauptzielgruppe, die Jugend aus dem Osten Berlins, gewann C. nach Meinung der Süddeutschen Zeitung (28.6.1993) auch deshalb für sich, weil er seinem Haus den Ruf verschaffte, "ein Widerstandsnest gegen die 'Plattmacher'-Mentalität westlicher Kolonisatoren zu sein". Nach SPIEGEL-Meinung (27.12.1993) wurde die Volksbühne bundesweit zum "Vorbild für eine kraftvolle Avantgarde".

Mit C. als Regisseur und Darsteller kam im Nov. 1994 "Die Sache Danton" an der Volksbühne heraus. Viel Diskussionsstoff lieferte im Jan. 1995 C.s Hamburger Inszenierung von Elfriede Jelineks Stück "Raststätte oder Sie machens alle", das nach Einschätzung der ZEIT (3.2.1995) "ein Theaterbeben der Stärke 5,5 auf der nach oben offenen Kunstrichterskala" auslöste. Kontrovers diskutiert wurden im Feuilleton 1995/1996 wegen der "drastischen Zerrbilder" seine Inszenierung von "Die Nibelungen - Born Bad" (nach Friedrich Hebbel), seine Theateradaption von Federico Fellinis Film "Die Stadt der Frauen", die Uraufführungsinszenierung von Wladimir Sorokins "Hochzeitsreise" und die Version von Carl Zuckmayers Stück "Des Teufels General", die parallel zur öffentlichen Diskussion um die Verstrickung der Wehrmacht in Nazi-Verbrechen an der Volksbühne herauskam.

1997 zeigte C. anlässlich seiner fünfjährigen Volksbühnen-Intendanz seine Version (Dialektfassung) von Hauptmanns Drama "Die Weber", das seiner Ansicht nach aus dem Blickwinkel der postindustriellen Überflussgesellschaft ein Meisterwerk zum Thema Armut und Rebellion ist. Zum Berliner Theatertreffen des Jahres 1999 wurde C.s Übersetzung von Sartres Bilderfolge "Die schmutzigen Hände" eingeladen. 1998 zeigte C. in Berlin die mit Spannung erwartete Uraufführung des Hauptstadt-Epos "Terrordrom" nach dem Roman von Tim Staffell, die als "wilde Politparabel" (SPIEGEL, 47/1998) die Kritiker aber nicht überzeugte. In der Saison 2000/2001 zeigte der "wunderbarste Regie-Scharlatan des deutschen Theaters", so Georg Diez über C. in der Süddeutschen Zeitung (3.12.2000), die Bühnenversion des Michel-Houellebecqs-Erfolgsromans "Elementarteilchen".

Die Zeitschrift Theater heute wählte C. in den Jahren 2002 und 2003 zweimal in Folge zum Regisseur des Jahres und würdigte damit auch seine Art Neuerfindung der Theaterkunst. Diese hatte sich nach Kritikermeinung einmal mehr 2002 bei seiner dritten Dostojewski-Adaption ("Der Idiot") mit einem grandiosen Martin Wuttke als Fürst Myschkin an der Berliner Volksbühne gezeigt, die die Süddeutsche Zeitung (17.6.2002) als "bunten Abgesang auf das bürgerliche Theater" besprach. Der Abend mit "ästhetischen Anleihen bei Seifenopern, Reality-Shows und Talkshow-Exzessen" wurde vom Branchenmagazin Die Deutsche Bühne (12/2002) als "sperrig, ungereimt und doch voller somnambuler Größe, voll von einer konvulsiven Zärtlichkeit für die Kreatur" gelobt und die Inszenierung im März 2003 mit dem renommierten Friedrich-Luft-Preis ausgezeichnet.

Inszenierungen an anderen TheaternAls Gastregisseur war C. vor allem in Basel, Wien, Hamburg, Zürich und bei den Salzburger Festspielen geschätzt. Am Wiener Burgtheater debütierte er im Juni 1998 mit der Uraufführung der Nestroy-Collage "Krähwinkelfreiheit" und brachte ein Jahr später zur Eröffnung der Wiener Festwochen mit seinem Berliner Ensemble "Dämonen" nach Dostojewskis Roman und "Les Possédés" von Camus heraus (2000 verfilmt). Im Sept. 1999 inszenierte er am Burgtheater zu Beginn der Klaus-Bachler-Intendanz "Die Tochter der Luft" von Hans Magnus Enzensberger nach Calderón de la Barca. C.s Debüt als Operettenregisseur mit Strauß' "Die Fledermaus" erfolgte 1997 in Hamburg. Als seine erste Operninszenierung stellte er 1998 in Basel Verdis "Otello" vor. Für die Salzburger Festspiele des Jahres 2000 "entstaubte" C. "mit sanftem Nachdruck", wie die Neue Zürcher Zeitung (27.7.2000) anerkennend feststellte, das Tennessee-Williams-Stück "Endstation Sehnsucht" und brachte es in eigener Bearbeitung unter dem Titel "Endstation Amerika - A Streetcar named Desire" im Okt. 2000 auch in Berlin heraus.

Zusätzlich zu seinen Verpflichtungen in Berlin übernahm C. 2004 die künstlerische Leitung der Ruhrfestspiele von Recklinghausen, wo er bereits vier Wochen nach der Eröffnungspremiere von "Gier nach Gold" über die gestörten Beziehungen in einer Dienstleistungsgesellschaft wegen geringer Publikumsresonanz fristlos entlassen wurde. Dieser spektakuläre Schritt führte in den Feuilletons zu kontroversen Diskussionen über das Festivalmanagement. Im anschließenden Rechtsstreit zwischen dem entlassenen Intendanten und den Verantwortlichen der Ruhrfestspiele kam es zum Jahresanfang 2005 zu einer Einigung dahingehend, dass für die Jahre 2006 und 2007 je eine Kooperation zwischen dem Festival und der Volksbühne vereinbart wurde.

Künstlerische Krise an der Volksbühne2005 inszenierte C. mit "Schuld und Sühne" bei den Wiener Festwochen bereits sein viertes Dostojewski-Stück. Dass 2006 mit Wagners "Meistersinger von Nürnberg" am Grand Théatre Luxembourg und im Rahmen eines Projekts im brasilianischen São Paulo mit Nelson Rodrigues' "Schwarzer Engel" weitere Premieren C.s zuerst außerhalb Berlins gezeigt wurden, ließ Fragen nach der aktuellen künstlerischen Situation an der Volksbühne aufkommen. Als C. in Berlin 2006 mit Brechts "Im Dickicht der Städte" wieder ein Theaterstück auf die Bühne brachte, wurden erste Stimmen laut, die von einer Krise des Hauses sprachen und C.s Arbeit als "erschöpft und einfallsarm" (Stgt. Z., 25.2.2006) bezeichneten. War die Volksbühne "in den vergangenen 15 Jahren das umstrittene, umjubelte, im In- und Ausland bestaunte Kraftzentrum des deutschen Theaters" (SPIEGEL, 26.11.2007), so erkannte man nun eine allgemeine Erschöpfung. Als ein Grund wurde der Abgang von Chefdramaturgen wie Stefanie Carp und Carl Hegemann oder langjährigen Volksbühnen-Schauspielern wie Martin Wuttke, Henry Hübchen oder Herbert Fritsch genannt. In C.s Arbeiten wie den "Meistersingern" oder Célines "Nord" (2007) erkannte die Fachkritik nur "ein leeres Gebrülle und Gerenne, als sei man dazu verdammt, stets die immer gleiche, von sehr schlechten Drogen angeheizte Absturzparty zu feiern" (ebd.). Nach der Premiere von Brechts "Die Maßnahme", angereichert mit Szenen aus Heiner Müllers "Mauser", (2008) sprach die Süddeutsche Zeitung (24.3.2008) gar von "Selbst-Demontage" C.s und "Volksbühnen-Elend".

Nichtsdestotrotz wurde C.s Vertrag in Berlin erneut vorzeitig bis 2013 verlängert. In diese Phase fiel auch eine umfangreiche Sanierung des Hauses, wegen der die Volksbühne 2009 mehrere Monate geschlossen war und im Rahmen eines Antike-Projekts in ein eigens erstelltes Freilufttheater im griechischen Stil auswich. Zur Wiedereröffnung der Volksbühne brachte C. 2009 die Uraufführung von Friedrich von Gagerns "Ozean" auf die Bühne. Lichtblicke sahen die Kritiker in C.s 2008 bei den Wiener Festwochen gezeigter Oper "Jakob Lenz" von Wolfgang Rihm oder in den beiden 2010 realisierten Premieren von Werken von Jakob Michael Reinhold Lenz, "Der Hofmeister" und "Die Soldaten". "Starke Momente entstehen dank des hervorragenden Schauspielerensembles und vor allem, wenn Castorf sich nahe an Lenz' Stück bewegt", hielt das Fachmagazin Theater der Zeit (März 2010) über seine Inszenierung von "Der Hofmeister" in Zürich fest.

Auch an der Volksbühne machte C. wieder von sich reden, als er sich ab 2010 Stoffen von Dostojewski ("Die Wirtin", 2012) und Tschechow ("Ein Duell", 2013) zuwandte. Seine zunächst bei den Wiener Festwochen im Juni 2011 gezeigte Inszenierung von Dostojewskis "Der Spieler" bezeichnete die Süddeutsche Zeitung (13.6.2011) als "Pflicht für alle Castorfianer" und in einem vom Nachrichtenmagazin FOCUS veröffentlichten Ranking der wichtigsten Theaterregisseure nahm C. Ende 2011 die Spitzenposition ein. Daher kam die erneute Vertragsverlängerung als Volksbühnen-Intendant im Febr. 2012 bis 2016 auch nicht überraschend.

Jubiläums-"Ring" in Bayreuth2011 war C. als Regisseur für den "Ring des Nibelungen" 2013 bei den Bayreuther Festspielen, dem Jahr von Wagners 200. Geburtstag, verpflichtet worden. In seiner Interpretation ersetzte C. das Gold des Nibelungen durch Erdöl und ließ die Handlung in einem trostlosen Motel an der Route 66 ("Rheingold"), an Bohrtürmen in der aserbaidschanischen Stadt Baku ("Walküre") oder am Berliner Alexanderplatz ("Siegfried") spielen. Obwohl seine Inszenierung nach der Premiere seines 16-stündigen "Ring" beim Festspielpublikum durchfiel und C. einen 15-minütigen "Buh"-Sturm über sich ergehen lassen musste, fand die Fachkritik anerkennende Worte. Er habe, so das Fachblatt Die Deutsche Bühne (9/2013) "die Wagner-Festspiele mit ihrem neuen 'Ring' auf einen Schlag wieder dahin katapultiert, wo sie eigentlich hingehören: Ins Zentrum einer aufregenden, die Geister spaltenden, diskursiven und zum Streit anregenden Wagner-Rezeption". Bei der Wiederaufnahme 2014 wurde der C.-Ring als "der bedeutendste Bayreuther Ring seit Jahrzehnten" (WELT, 4.8.2014) und "Glanzstück des neuen Bayreuth unter Katharina Wagner" (SZ, 1.8.2014) besprochen. Bei der dritten und vierten Auflage der C.'schen "Ring"-Inszenierung 2015 und 2016 machten sich laut Kritikern jedoch erste Alterungsspuren bemerkbar (vgl. FAZ, 3.8.2015; SZ, 2.8.2016). 2017 schließlich verabschiedete sich C. mit der umjubelten Aufführung der "Götterdämmerung" aus Bayreuth.

Umstrittener Abschied von der VolksbühneAls tiefgreifender Einschnitt für C. und die Volksbühne gleichermaßen wurde im Frühjahr 2015 die Entscheidung des Berliner Senats gewertet, die bis dahin bereits über 20 Jahre währende Intendanz von C. kein weiteres Mal zu verlängern und stattdessen ab Sommer 2017 den bisherigen Direktor der Tate Modern in London, Chris Dercon, an die Spitze der renommierten Bühne zu berufen. C., der seinem unfreiwilligen Abgang in zahlreichen Interviews mit Unverständnis begegnete (vgl. u. a. SZ, 30.4.2016) wurde daraufhin vom Ensemble der Volksbühne sowie zahlreichen namhaften Regiekollegen in Schutz genommen, wohingegen sich gegen die Einsetzung des nicht aus der Theaterwelt stammenden Belgiers Dercon heftiger Widerstand aus Teilen der Berliner Kulturszene formierte. Dercon hielt sich letztlich nur sehr kurz als Intendant der Volksbühne, die zahlreiche Theaterstars (darunter Regisseur Herbert Fritsch) gemeinsam mit C. verließen, und trat bereits im April 2018 wieder von dem Posten zurück. Nach dem Interimsintendanten Klaus Dörr übernahm ab der Spielzeit 2021/2022 schließlich der C.-Vertraute René Pollesch die Intendanz am Rosa-Luxemburg-Platz.

Mit seinen letzten eigenen Inszenierungen an der Volksbühne war der scheidende C. aber immerhin wieder auf mehr Wohlwollen der Kritiker gestoßen. So nannte die Frankurter Allgemeine Zeitung (30.5.2016) C.s Inszenierung "Die Kabale der Scheinheiligen. Das Leben des Herrn Molière" (Mai 2016) nach zwei Vorlagen von Michail Bulgakow eine "inspiriert polymorphe wie beherzt maßlose Collage". Als "Muss für Fans und Feinde" und "Kunsterk, aus dem Vollen geschöpft", wertete die Süddeutsche Zeitung (6.3.2017) C.s letzte große Volksbühnen-Inszenierung, eine Interpretation von Goethes "Faust" im März 2017. Neben den Feuilletons (vgl. u. a. NZZ, 6.3.2017) zeigte sich auch das Premierenpublikum in seltener Eintracht begeistert von dem Stück, das noch einmal viele C.-Weggefährten versammelte, darunter Martin Wuttke, Sophie Rois und Lars Rudolph. Den tatsächlichen Schlusspunkt unter die Volksbühnen-Ära C.s setzte dann die weit kleinere Inszenierung "Ein schwaches Herz" nach einer frühen Erzählung des von C. verehrten Dostojewski im Juni 2017.

Gefragter Gastregisseur für Schauspiel und OperAuch mit seinen Gastspielen an anderen Theaterbühnen bestimmte C. nach wie vor die Schlagzeilen, so mit dem Brecht-Stück "Baal", das Mitte Jan. 2015 am Residenztheater München Premiere feierte. Nach einer Klage des Suhrkamp-Verlages im Auftrag der Erben Bertolt Brechts wurde vor dem Landgericht München im Febr. 2015 ein Vergleich geschlossen, demzufolge C.s Fassung aufgrund einer zu starken Bearbeitung der Vorlage nur noch zweimal gespielt werden durfte. C. selbst hatte bereits zuvor lapidar erklärt: "Das Originalgenie ist Rimbaud, von dem hat Brecht ja das meiste geklaut" (zit. n. SZ, 2.2.2015). Als "eine Zumutung, aber eine, die dunkel verführerisch schimmert" besprach die Süddeutsche Zeitung (23.3.2015) C.s Versuch, das als unspielbar geltende, 1919 erstveröffentlichte Avantgarde-Drama "Pastor Ephraim Magnus" von Hans Henny Jahn im März 2015 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg auf die Bühne zu bringen.

Nach seinem Abschied von der Volksbühne (s. o.) blieb C. ein vielgefragter und -beschäftigter Theaterregisseur, der die angesehensten deutschsprachigen Bühnen bespielte. Zu Dostojewski kehrte er im Okt. 2017 mit einer Theaterfassung von dessen Erzählung "Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett" am Schauspiel Zürich zurück, die von Fachstimmen aber nur verhalten aufgenommen wurde (vgl. u. a. NZZ, 3.10.2017). Mehr Anklang fand 2018 C.s Abschluss seines Dostojewski-Zyklus, den er mit der Dramatisierung des Romans "Ein grüner Junge" am Schauspiel Köln präsentierte (vgl. SZ, 6.11.2018). Kritikerlob erfuhr C. im selben Jahr auch mit "Der haarige Affe", einer Montage dreier expressionistischer Dramen von Eugene O'Neill für das Hamburger Schauspielhaus, welche die Stuttgarter Nachrichten (19.2.2018) als "kreativ, klug und scharf", die Frankfurter Allgemeine Zeitung (21.2.2018) als "so nonchalanten wie unterhaltsamen Bilderbogen" lobte.

Wenig überzeugt zeigten sich Theaterkritiker hingegen von C.s aufwendiger Bühnenadaption des Hamsun-Romans "Hunger" bei den Salzburger Festspielen 2018, die mit einer Spielzeit von sechs Stunden laut Frankfurter Allgemeinen Zeitung (6.8.2018) nur für "Castorf-Masochisten" zu empfehlen war. Ungewohnt einhellige Begeisterung löste hingegen im Jan. 2019 C.s Gastspiel von Brechts "Galileo Galilei" am Berliner Ensemble aus, wobei insbesondere die Leistung von Hauptdarsteller Jürgen Holtz hervorgehoben wurde (vgl. SZ, 21.1.2019; ZEIT, 24.1.2019). Ebenfalls am Berliner Ensemble war im Juni 2021, nach mehrmaliger Verschiebung aufgrund der Coronavirus-Pandemie und den damit verbundenen Theaterschließungen, C.s Inszenierung des Erich-Kästner-Romans "Fabian oder Der Gang vor die Hunde" zu sehen, die für die Süddeutsche Zeitung (14.6.2021) aber nur "Castorf-Routine auf Autopilot" bot. Positiver fielen die Reaktionen auf C.s Regiearbeiten für das Wiener Burgtheater im Sept. 2021 aus. Sowohl die Uraufführung von Elfriede Jelineks Groteske "Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!" als auch die Aufführung des Handke-Einakters "Zdeněk Adamec" fanden den Beifall des Fachpublikums (vgl. Standard, 6.9.2021 bzw. FAZ, 22.9.2021).

Als gelungene Fortsetzung seiner Karriere als Opernregisseur wurde C.s Stuttgarter Inszenierung der lyrischen Oper "Faust" von Charles Gounod (Dirigat: Marc Soustrot) im Nov. 2016 wahrgenommen (vgl. FAZ, 1.11.2016; ZEIT, 3.11.2016). C.s Operninszenierungen an der Bayerischen Staatsoper München ("Aus einem Totenhaus" von Janáček, 2018) sowie der Deutschen Oper Berlin ("La forza del destino" von Verdi, 2019) fielen bei Kritik und Publikum jedoch durch - letztere verriss etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung (11.9.2019) als "selbstreferentielle intellektuelle Onanie". Als letzte Arbeit vor einem "Coronavirus-Lockdown" brachte C. im Nov. 2020 vor zahlenmäßig begrenztem Publikum die Oper "Die Vögel" von Walter Braunfels auf die Bühne der Bayerischen Staatsoper (Dirigat: Ingo Metzmacher).

Familie

C. ist Vater von sieben Kindern, die von fünf Frauen stammen. Er ist mit der französischen Schauspielerin Jeanne Balibar liiert. Spaß haben, Geld verdienen und die Welt verändern, nannte er einmal als Hobbys. C. lebt in Berlin.

Werke

Weitere Inszenierungen u. a.: Goethes "Clavigo" (86; Halle), Lorcas "Bernarda Albas Haus" (86; Halle), "Torquato Tasso" (91; München), "Clockwork Orange" (93; Berlin), "Alkestis" (93; Berlin), Carl Lauf/Wilhelm Jacoby/Heiner Müllers "Pension Schöller: die Schlacht" (94; Berlin), "Herr Puntila und sein Knecht Matti" (96; Hamburg), Müllers "Der Auftrag" (96; Berliner Ensemble), Charles Mérés "Der Marquis de Sade" (96; Bochum), Strindbergs "Schwarze Fahnen" (97; Stockholm), Irvine Welshs "Trainspotting" (97; Berlin), Shakespeares "Richard II." (99; Berlin), Shakespeares "Heinrich IV." (99; Berlin), Döblins "Berlin Alexanderplatz" (01; Zürich), Dostojewskis "Die Erniedrigten und die Beleidigten" (01; Wien), Pitigrillis "Kokain" (04; UA, Berlin), Wittenbrink/Castorfs "Brüder zur Sonne zur Freiheit" (04; UA, Recklinghausen), Castorf/Andersens "Meine Schneekönigin" (04; UA, Berlin), von Gagerns "Marterpfahl" (05; Berlin), "Der Jasager"/ "Der Neinsager" von Bertolt Brecht und Kurt Weill (07; Berlin), Kästners "Emil und die Detektive" (07; Berlin), Brechts "Die Maßnahme" und Müllers "Mauser" (08; Berlin), "Kean ou Désordre et Génie par Alexandre Dumas et Die Hamletmaschine par Heiner Müller" (08; Berlin), Senecas "Medea" (09; Berlin), Tschechows "Nach Moskau, nach Moskau" (10; Wien), Gotthelfs "Die schwarze Spinne" (11; Zürich), Kafkas "Amerika" (12; Zürich), Molières "Der Geizige" (12; Berlin), Célines "Reise ans Ende der Nacht" (13; München), Malapartes "Kaputt" (14; UA Berlin), Dostojewskis "Die Brüder Karamasow" (15; Wien), Platonows "Tschewengur" (15; Stuttgart), Hebbels "Judith" (16; Berlin), "Die Abenteuer des guten Švejk im Weltkrieg" nach Hašek (16; München), Hugos "Les Misérables" (17; Berlin), Molières "Don Juan" (18; München), Dürrenmatts "Justiz" (19; Zürich), Conrads "Der Geheimagent" (21; Hamburg), "Aus dem bürgerlichen Heldenleben" nach Sternheim (21; Köln), "Fabian" nach Kästner (21; Berlin).

Buchveröffentlichung: "Provokation aus Prinzip" (02), "Die Erotik des Verrats. Fünf Gespräche mit Hans-Dieter Schütt" (15).

29. Januar 2022: Uraufführung am Landestheater Niederösterreich, St. Pölten: "Schwarzes Meer" von Mimin Irina Kastrinidis. Regie: Frank Castorf.

14. April 2022: Premiere am Staatsschauspiel Dresden: "Wallenstein" von Friedrich von Schiller. Regie: Frank Castorf.

29. Oktober 2022: Premiere am Beogradsko dramsko pozorište, Belgrad: "Göttliche Komödie" von Dante Alighieri. Regie: Frank Castorf.

21. Juli 2023: Premiere im Amphitheater von Epidauros, Athen: "Medea" von Euripides. Regie: Frank Castorf.

16. September 2023: Premiere an der Staatsoper Hamburg: "Boris Godunow" von Modest Petrowitsch Mussorgski. Dirigat: Kent Nagano. Regie: Frank Castorf.

17. Februar 2024: Premiere am Burgtheater, Wien: "Heldenplatz" von Thomas Bernhard. Mit: Birgit Minichmayr u. a. Regie: Frank Castorf.

14. September 2024: Premiere am Berliner Ensemble: „Kleiner Mann - was nun?“ von Hans Fallada. Regie: Frank Castorf.

25. April 2025: Premiere am Staatsschauspiel, Dresden: "Dantons Tod" von Georg Büchner. Regie: Frank Castorf.

Literatur

Literatur u. a.: Siegfried Wilzopolski, "Theater des Augenblicks. Die Theaterarbeit Frank Castorfs. Eine Dokumentation" (92); Jürgen Balitzki, "Castorf, der Eisenhändler. Theater zwischen Kartoffelsalat und Stahlgewitter" (95); Hans-Dieter Schütt/Kirsten Hehmeyer, "Castorfs Volksbühne. Schöne Bilder vom hässlichen Leben" (99); Tobias Hockenbrink, "Karneval statt Klassenkampf. Das Politische in Frank Castorfs Theater" (08); Frank Raddatz (Hrsg.), "Republik Castorf. Die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz seit 1992" (16); Peter Laudenbach, "Am liebsten hätten sie veganes Theater. Interviews 1996-2017" (18).

Auszeichnungen

Auszeichnungen u. a.: Kritikerpreis der "Berliner Zeitung" (93), Fritz-Kortner-Preis (94), Theaterpreis der Stadt Berlin (00; mit Henry Hübchen), Schillerpreis (02), Verdienstorden des Landes Berlin (03), Friedrich-Luft-Preis (03), Internationaler Theaterpreis (03), "Regisseur des Jahres", Zeitschrift Theater heute (89-03, 5-mal), Einladungen zum Berliner Theatertreffen (93, 95, 97, 99, 01, 14, 15, 18), Großer Kunstpreis Berlin (15), Nestroy-Theaterpreis für Lebenswerk (16), Deutscher Theaterpreis "Faust" (16; Kategorie Regie/Schauspiel für "Die Brüder Karamasow").

Mitgliedschaften

Mitgliedschaften: C. ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg, der Akademie der Darstellenden Künste Frankfurt/Main und der Abteilung Darstellende Kunst der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.



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